Inklusion von Kindern mit Typ-1-Diabetes noch immer lückenhaft
„Immerhin hat sich mittlerweile das Verständnis durchgesetzt, dass eine Beeinträchtigung kein Defizit oder eine Abweichung darstellt, sondern Teil der Vielfalt menschlichen Lebens ist“, sagte Karina Boß von der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Allerdings werden vor allem im Bildungsbereich weiterhin die „gesunden“ von den „kranken“ Kindern getrennt. Die bisher etablierten Maßnahmen zur Eingliederung von Kindern mit Diabetes gleichen daher eher einem „Puzzle mit vielen fehlenden Teilen bzw. nicht passgenauen Teilen“, kritisierte die Medizinpädagogin und Diabetesberaterin.
16 Bundesländer, 16 verschiedene Regelungen
Jedes Bundesland regelt seine Grundsätze für eine Bewilligung von Fördermaßnahmen zudem unterschiedlich. Meist gilt sogar ein sogenannter Ressourcenvorbehalt, d.h., einer Maßnahme wird nur dann zugestimmt, wenn eine „geeignete personelle und sachliche Ausstattung“ vorhanden ist. Ist dies nicht der Fall und lässt sich die Ausstattung auch nicht nachrüsten, kann ein Kind gegen den Willen der Eltern an eine Förderschule überwiesen werden. Dies betrifft einen relevanten Anteil der Kinder mit Diabetes, wie eine bundesweite Untersuchung der AG Inklusion der Arbeitsgemeinschaft Pädiatrische Diabetologie (AGPD) von 2019 ergab. Demzufolge besuchen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung fast doppelt so viele Kinder mit Typ-1-Diabetes eine Sonderschule bzw. ein Förderzentrum. Dort erreichen allerdings im Schnitt drei Viertel aller Kinder nicht einmal einen Hauptschulabschluss, wie aus dem Bildungsbericht 2020 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung hervorgeht.
Doch auch wenn Kinder mit Diabetes an Regelschulen aufgenommen werden, ist ihre Teilhabe nicht gesichert. So gaben in der AGPD-Studie knapp 30 % der Eltern von Kindern im elementaren Bildungsbereich an, dass ihr Nachwuchs wegen seiner Erkrankung mindestens einmal von einer Gruppenfahrt ausgeschlossen wurde. Im Grundschulalter betrug diese Quote rund 15 %, an weiterführenden Schulen 14 %.
Bei etwa jedem dritten von vier Kindern im Kindergartenalter musste mindestens ein Elternteil aufgrund der unzureichenden Betreuungssituation die Arbeitszeit reduzieren, mehr als ein Viertel – in der Regel die Mutter – die Berufstätigkeit sogar ganz aufgeben. Diese unbefriedigende Situation führte bei 62 % der Mütter zu erhöhten psychosozialen Belastungen.1
Ein Stressfaktor ist laut Boß das undurchsichtige Prozedere bei der Beantragung von externen Eingliederungshilfen. Träger sind in einigen Bundesländern die Jugendämter, in anderen die Sozialämter. Einzelne Leistungen wiederum fallen in den Zuständigkeitsbereich der Krankenkasse. Nicht selten lehnen Ämter oder Kassen die entsprechenden Anträge ab und verweisen auf den jeweils anderen Träger. „Für die Eltern, die ohnehin mit der Versorgung ihres chronisch kranken Kindes belastet sind, ist das schwer zu bewältigen“, erklärte die Referentin. Betroffenen rät sie, sich auch den ablehnenden Bescheid eines Amts stets schriftlich geben zu lassen, um ihn der nächsten Stelle vorlegen zu können.
Schule trägt Verantwortung
Quelle: Bratina N et al. Pediatr Diabetes 2018; 27: 287-301; DOI: 10.1111/pedi.12743
Fortbildungen oft nur durch Spenden möglich
Weitere Lücken offenbaren sich, wenn Schulen und Eltern Fortbildungen für Lehrkräfte organisieren wollen. Weil es hierfür keinen regulären Geldtopf gibt, werden sie überwiegend durch Spenden, ehrenamtliche Tätigkeit oder eine Querfinanzierung von Geldern innerhalb der betreuenden Diabeteseinrichtung gewährleistet. Die vorhandenen Strukturen reichen daher nicht aus, um Kinder mit Diabetes in der Schule gemäß den internationalen kinderdiabetologischen Leitlinien (s. Kasten) zu inkludieren und zu integrieren, so die Referentin. 1. Dehn-Hindenberg A, Lange K. Diabetol Stoffwech 2019; 14: 36; DOI: 10.1055/s-0039-1688306Quelle: Diabetes Herbsttagung 2020