„Vorsorge bis zum Tod“
Mammographie, Darmkrebsvorsorge, Prostatatest, Gesundheitscheck – Prof. Mühlhauser geht in ihrem Buch der Frage nach, ob all diese Maßnahmen wirklich helfen, Krankheiten vorzubeugen bzw. diese rechtzeitig zu erkennen.
„Das Suchen nach Risiken ist nicht zwangsläufig von Nutzen“, ist die Fachärztin für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie und Inhaberin des Lehrstuhls für Gesundheitswissenschaften an der Universität Hamburg überzeugt. Der Nachweis stehe aus, dass die Menschen dank der Vorsorgeuntersuchungen seltener an Herz-Kreislauf-, Krebs-, Diabetes- oder anderen Erkrankungen sterben als ohne das Angebot.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin die Thematik kritisch unter die Lupe nimmt. 2009 überschrieb der „Spiegel“ ein Interview mit ihr so: „Umstrittene Früherkennung – Ärzte schüren falsche Hoffnungen“.
Man muss beim Überfliegen des Inhaltsverzeichnisses ihres neuen Buches – „Wiener Walzer zum Hodencheck“, „Standesdünkel statt Patientenwohl“ – schon fast schmunzeln. Prof. Mühlhauser möchte, dass ihr Werk Kontroversen auslöst und einen kritischen Diskurs über Vorsorge im Medizinsystem anregt.
Sie schreibt von einer „Vorsorge bis zum Tod“ – beginnend damit, kaum dass man das Licht der Welt erblickt hat, bis zum Pflegefall, wo noch der Ernährungszustand von der Pflegerin per Checkliste kontrolliert wird.
Blutdruckmessen als Handschlag des Arztes
Wer sucht, der findet, ist sie bezüglich der ärztlichen Diagnostik sicher. Doch welche Bedeutung haben Auffälligkeiten – was ist harmlos, was nicht? Wie gut ist ein Test? Und wie schädlich sind ggf. nachfolgende Untersuchungen und Therapien? Prof. Mühlhauser geht ins Detail und deckt dabei u.a. auf, wie falsch Ärzte Statistiken, etwa zu Brustkrebs und Mammographie, interpretieren.
Im Kapitel „Gebärmutterhalskrebs – Weltmeister im Screening, trotzdem kein Gewinner“, kritisiert die Internistin, dass nach dem Screening mit dem PAP-Test sehr viele Frauen – jährlich gibt es bis zu 100.000 Konisationen – vorzeitig operiert würden. Dabei könnten sich leichtgradige Zellveränderungen wieder zurückbilden. „So ist diese medizinische Vorsorge für einen nicht unerheblichen Teil der Frauen gesundheitsschädigend.“
Das Blutdruckmessen, routinemäßig und ungefragt bei Hausarzt, Notarzt und im Krankenhaus ausgeübt, sei „quasi der Handschlag zur Begrüßung beim Arzt.“ Die Behandlung des Bluthochdrucks kann Leben verlängern, weiß Prof. Mühlhauser. Allerdings werde der Blutdruck „leider häufig falsch gemessen“, was zu unnötigen Medikamenteneinnahmen führe.
Gestationsdiabetes – eine Diagnose sucht ihre Krankheit
Die Autorin fragt auch: Gibt es wirklich eine Diabetesepidemie? Wie viele Menschen mit Diabetes hierzulande leben, sei nicht bekannt, aktuelle Daten beruhten auf Selbstangaben der Befragten. Und unter der Überschrift „Schwangerschaftsdiabetes – eine Diagnose sucht ihre Krankheit“ schreibt sie: Ob das routinemäßige Suchen nach Gestationsdiabetes die Gesundheit der Frauen und ihrer Babys verbessere, sei unbekannt. Bisher fehlten wissenschaftliche Studien.
Brustkrebs, Darmkrebs, Hautkrebs, Übergewicht, Diabetes – Einladungen und Ratschläge zu Vorsorge und Früherkennung gibt es in voller Breite. Nicht immer versteht der Bürger, warum er mitmachen soll. Doch wer nicht mitzieht, bekommt ein schlechtes Gewissen. Dass die Politik den „informierten Bürger“ mehr in den Blick genommen hat, lobt die Gesundheitswissenschaftlerin. Zufrieden ist sie allerdings längst nicht.