Endlich Klartext: Anästhesist spricht in seinem Sachbuch zur Palliativmedizin unangenehme Wahrheiten an
In deutschen Kliniken wird operiert, katheterisiert, bestrahlt und beatmet, was die Gebührenordnung hergibt – bei 1600 Euro Tagespauschale für stationäre Beatmung ein durchaus rentables Geschäft“, schreibt der 1967 geborene und seit 1998 als niedergelassener Palliativmediziner tätige Arzt und ehemalige Sachverständige im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages.
Anhand verschiedener Fälle beschreibt er, wie „alte, schwer Kranke mit den Mitteln der Apparatemedizin behandelt werden, obwohl kein Therapieerfolg mehr zu erwarten ist“. Nicht Linderung von Leid und Schmerz, sondern der Profit stehe im Fokus des Interesses vieler Ärzte und Kliniken, die honoriert werden, wenn sie möglichst viele und aufwendige Eingriffe durchführen.
Bestätigt wird die Kritik von Professor Dr. Karl Lauterbach. In seinem Begleitwort schreibt der Bundestagsabgeordnete, Dr. Thöns nenne „Fälle, bei deren Schilderung einem der Atem stockt“. Es seien falsche Anreize und Fehlentwicklungen, wenn sich Ärzte bei der Behandlung von Patienten nicht von ethischen, sondern von ökonomischen Interessen leiten ließen. „Über dieses Problem müssen wir sprechen und vor allem Patienten am Lebensende und ihre Angehörigen aufklären und ein Bewusstsein für das Thema schaffen“, schreibt der SPD-Fraktionsvize. Das Buch leiste dazu einen wertvollen Beitrag.
Autor hält Palliativversorgung für vorteilhaft, aber …
Dr. Thöns beschreibt rückblickend, dass Notarzt sein Traumberuf war. Doch schon in der Ausbildung wurde er „Zeuge unendlich aufwendiger Operationen an teils schwerstkranken alten Menschen“. Die auf die Eingriffe folgenden langwierigen Intensivbehandlungen erschienen ihm nicht selten unangemessen. Sie seien durch viel Leid geprägt gewesen aufgrund nicht heilender, übel riechender Wunden, Platzbäuchen, Verwirrtheitsdelirien, Fixierungen, der Verzweiflung der Angehörigen und letztlich doch den Tod.
„Es schien mir also nur konsequent, dem fremdbestimmten Klinikbetrieb den Rücken zu kehren und selbst eine Praxis zu übernehmen, wozu ich mich vor 18 Jahren entschied“, resümiert der in Witten in einer Gemeinschaftspraxis niedergelassene Kollege. Doch die Geschehnisse um Sterbenskranke lassen ihn nicht los, er beschreibt sie in seinem Buch.
Bei Amazon gibt es Pro und Kontra von den Lesern
Dabei stellt der Anästhesist grundsätzlich klar, „dass eine frühe Palliativversorgung viele Vorteile hat“ – hinsichtlich Lebensqualität, Stimmung, Krankheitsverständnis, Vorsorge und sogar Überleben. Palliativversorgung führe auch zu weniger Chemotherapie in den letzten Lebensmonaten, zu selteneren Notarzteinsätzen und weniger Krankenhausaufenthalten. „Damit sinken nachweislich Kosten, aber eben auch die Gewinne des Sterbeverlängerungskartells“, merkt der Autor süffisant an.
„Chemotherapie ohne Wenn und Aber“, „Wehrlos im Wachkoma“, „Dialyse: Lohnende Blutwäsche“ – so überschreibt Dr. Thöns die Kapitel seines Buches. Schonungslos beschreibt er darin die von ihm gesehenen Defizite des Gesundheitssystems anhand anonymisierter Beispiele. Viele Leser danken es ihm. In der Bewertung der Internet-Handelsplattform Amazon erhält das Buch fünf von fünf möglichen Sternen.
„Bin selber Arzt in einem Krankenhaus und kenne den wirtschaftlichen Druck, der dort manchmal herrscht. Wenn Medizin und Profitstreben zusammentreffen, bleibt die Menschlichkeit manchmal auf der Strecke“, kommentiert ein Kollege. „Danke, Dr. Thöns, für diese mutigen und ehrlichen Worte“, schrieb ein anderer Leser, dessen Frau im Koma liegt. Bei Gesprächen mit verschiedenen Ärzten sei er nach der Lektüre bestens vorbereitet gewesen. Vielfach Lob kommt auch von der Presse. „Ein Arzt, der Klartext redet“, heißt es z.B. bei der Pforzheimer Zeitung.
Kritiker rügen ein polemisches Beschimpfen von Kollegen
Doch es gibt auch mächtig Gegenwind, vielfach aus der Ärzteschaft. „Bin schwer enttäuscht, hatte nicht mit ausschließlich polemischem Kollegenbashing über so viele Seiten gerechnet“, schreibt ein Mediziner. Eine andere Bewertung lautet: „gar nicht gut“. Zum Glück seien es Einzelfälle: „In unserer Klinik gibt es gerademal einen von mehreren hundert Ärzten, der sich in den beschriebenen Fällen wiederfinden würde.“ Ein diffiziles und wichtiges Thema sei durch undifferenzierte, polemische Schwarz-Weiß-Malerei für Laien völlig falsch dargestellt.
Doch wenn auch die etwas reißerische Art des Schreibens viel Kritik hervorruft, dass Dr. Thöns inhaltlich daneben liegt, schreibt keiner der Kommentatoren.