Wann bekomme ich denn hitzefrei?
Sommer 2019: Es ist heiß. Unbarmherzig knallt die Sonne gegen die geschlossenen Rollläden meines Sprechzimmers, während ein überforderter Ventilator die Luft ein wenig verquirlt, um wenigstens die Illusion einer Abkühlung zu schaffen. Wenn ich das Fenster öffne, schlägt mir die Hitze wie eine Faust ins Gesicht, sodass ich nur dann Lüftungsversuche starte, wenn die olfaktorische Belastung überhand nimmt.
„Ich bin ein bisschen nass!“, entschuldigt sich die Patientin, die sich gerade entblättert hat. Das ist sie, aber frisch geduschte Nässe ist doch wirklich kein Problem! Ich leide eher unter ungepflegten Zeitgenossen mit müffelnden, fehlfarbenen T-Shirts, die lange keine Waschmaschine gesehen haben. Mit etwas verlangsamten Sinnen arbeite ich mich durch das Hautkrebsscreening. „Sie haben gar keine Tätowierung“, staune ich. „Das ist mittlerweile fast schon die Ausnahme!“ Die junge Frau lacht: „Ich kann meine Individualität auch anders ausdrücken.“
Da wabert die Vorstellung eines Tribals durch mein etwas vernebeltes Hirn. Wo sind sie eigentlich hin, die ganzen „Arschgeweihe“? Ich habe lange keines mehr gesehen. Vor Kurzem noch wucherten sie gefühlt aus jedem dritten Hosenbund. Kann man solche Riesendinger überhaupt entfernen? Tut das nicht weh und ist es außerordentlich mühselig? Oder verstecken sie sich doch noch irgendwo?
Mittlerweile ist die Patientin fertig, froh, meiner Hitzehölle und meiner Untersuchung zu entkommen. Und ich schaue nach meinem Kaffee. Bei Hitze soll man ja nichts Kaltes trinken. Dennoch taucht vor meinem inneren Auge eine Rhabarberschorle mit Eiswürfeln und einem Minzeblatt auf. Ab wann kriegt man als Ärztin eigentlich hitzefrei? Der Blick auf meine Wartezimmerliste zeigt, dass reichlich Patienten den Weg zu uns gefunden haben, obgleich das Außenthermometer die 35-Grad-Marke überschritten hat. Warum bloß??
Plötzlich heißt es: „Bitte ins Labor!“ Das kann Gutes und Schlechtes bedeuten. Gibt es eine Krisensituation? Nein, ein mitfühlender Patient hat gerade Eis für alle spendiert. Später zeigt sich, warum er uns milde stimmen wollte: Sein HbA1c hat sich in ernste Höhen geschwungen. Wie soll ich seinen Konsum von kühlem Pils, Grillgut und Eis brandmarken, wenn ich noch das letzte Stückchen Stracciatella auf der Zunge spüre? „Danke für das wundervolle Eis“, eiere ich herum, „aber dennoch müssen wir mal über Ihre Diabetesdiät sprechen“.
Ihm folgt ein steter Strom von Patient(inn)en. Ich entferne Zecken, begutachte Sonnenbrand und verstauchte Knöchel und versuche herauszufinden, wer nur einen gelben Schein abgreifen will, um nicht arbeiten zu müssen. „Aber Frau Doktor“, rügt mich ein junger Mann mit einem nur leicht gereizten Bremsenstich am Fußrücken, „damit komme ich niemals in die Arbeitsschuhe!“
Wie soll ich mich wehren, wenn mein Hirn bei 30 Grad Zimmertemperatur leise vor sich hin dampft? Ich finde ja meine Arbeitsschuhe schon lästig, und die gehen weder bis zum Knöchel, noch haben sie Stahlkappen! „Okay, zwei Tage den Fuß hochlegen“, lasse ich mich breitschlagen. „Aber wehe, ich sehe Sie im Eiscafé!“ Er grinst: „Ins Schwimmbad darf ich doch, oder? Zum Kühlen?“ „Natürlich nicht“, sage ich schmunzelnd, „es ist viel zu gefährlich dort. Sie könnten erneut gestochen werden!“
Am Ende der Sprechstunde danke ich den Herstellern von Deos und Seifen und schleppe mich zum Auto. Offen fahren und noch mehr Hitze aufs Hirn? Nein, ich schließe das Dach und lasse die Klimaanlage laufen.Wenn wir in zwei Jahren in neue Räume ziehen, werden wir auch eine in der Praxis haben. Ich kann es gar nicht erwarten! Anders als eine arbeitsunwillige Dame, die sich heute bei mir beklagte: „Seit wir eine Klimaanlage haben, bin ich ständig erkältet. Ich brauche unbedingt eine Krankschreibung!“