Werktags Arzt, sonntags Gutachten-Automat
Es war ein schönes Wochenende. Am Samstag hatten wir Gäste und am Sonntag den Abwasch. Denn gemäß den Anweisungen meiner Frau dürfen weder Besteck noch Gläser noch die schönen Teller aus buntem Steingut in den Geschirrspüler. Der Grund: Sie werden davon blind. Und welcher Arzt will schon schuld an Erblindung sein?
Der normale Mann fällt nach dieser Tortur und dem darauffolgenden Mittagessen ins gepflegte Koma – volkstümlich auch Mittagsschlaf genannt. Nicht so ein Arzt. Dieser beginnt nun, Gutachten zu schreiben und Anfragen zu beantworten. Davon bekommt er jede Woche Dutzende. Kein Wunder. Denn der deutsche Patient kennt seine Rechte. Hat er Verletzungen oder ein chronisches Leiden, geht er zum Versorgungsamt.
Reiserücktrittsversicherungsgutachten? Möglichst sofort in der Sprechstunde
Die Urlaubsreise hat nicht geklappt? Klar, ein Reiserücktrittsversicherungsgutachten muss erstellt werden. Dies aber möglichst jetzt sofort in der Sprechstunde. Ist er der Meinung, dass er mal wieder eine Kur braucht, läuft er zur Krankenkasse oder zur Rentenversicherung. Selbst wenn die Aussichten auf Erfolg schlecht sind, überall sagt man ihm: „Stellen Sie doch erst mal einen Antrag! Ein Antrag kostet nichts!“
Doch. Er kostet etwas. Nämlich unsere ärztliche Freizeit, die eigentlich der Erholung dienen soll, nach einer stressigen Woche in einer randvollen Praxis. Zeit, die noch dazu miserabel vergütet wird. Nach wie vor. Jeder Anwalt grinst da still in sich hinein. Ja, die Ämter, Gerichte und privaten Versicherungen wollen gut mit Papier gefüttert sein. Die dabei zutage tretende Überheblichkeit dieser Institutionen lässt einem manchmal den Atem stocken.
Da wird ein umfassender ärztlicher Bericht gefordert, jedoch nur bezahlt, wenn er innerhalb von drei Tagen erstellt wird. Die Arbeitsagentur gewährt dafür immerhin noch zehn Tage. Oder es kommt ein Gerichtsgutachten, indem man aufgefordert wird, über alles zu berichten, was man mit dem Patienten so angestellt hat. Manchmal ohne zeitliche Eingrenzung. Also gegebenenfalls in den letzten zwanzig Jahren. Kostet doch nichts! Die Gebühr für den Staat bleibt dieselbe.
In letzter Zeit scheint eine Ära angebrochen zu sein, in der die gesetzlichen Krankenkassen Müttergenesungskuren und Mutter-Kind-Kuren wie mit dem Salzstreuer ausschütten. Jede Woche erscheinen junge Frauen mit solchen vierseitigen Pamphleten und klagen über Erschöpfung. Ein oder zwei Kinder im Vorschulalter und eine 35-Stunden-Woche, das schlaucht ja auch wirklich. Zumal der Mann vollzeitig tätig ist.
Zur Regeneration reichen die Wochenenden nicht mehr
Da reichen die Wochenenden und der Jahresurlaub nebst Brückentagen einfach nicht zur Regeneration. Da ist man reif für die Insel – bei uns meist für eine Ostseeinsel. Manchmal wundere ich mich insgeheim, wie wir unsere Kinder eigentlich groß bekommen haben, so ganz ohne Kur und Rehamaßnahmen?
Oftmals muss ich solche jungen Mütter auch mal fragen, was ich eigentlich draufschreiben soll auf den Kurbogen? Sie waren vor zwei Jahren das letzte Mal bei mir. Meistens wegen Lappalien. Keine chronischen Erkrankungen. Nichts. Dem Alter entsprechend gesund. „Ja, aber die von der Krankenkasse haben doch gesagt, ich soll mal zur Kur fahren ...“ Paradiesische Zustände werden wahr!
Nur nicht für die wirklich kranken Alten. Hier eine Kur zu bekommen, ohne akute lebensverändernde Erkrankung, grenzt oft an ein Wunder. „Die Bedingungen am Wohnort sind noch nicht ausgeschöpft“ heißt das Totschlagargument. Klar, eine Wiederherstellung von Arbeitsfähigkeit ist ja auch nicht zu erwarten.
Erst eine Reihe von Widersprüchen bis hin zur Anrufung des Sozialgerichtes bewirken ein Umdenken bei der Krankenkasse. Und dann passiert das Unvermeidliche: Eine gerichtliche Gutachtenanforderung kommt herein geflattert: „Alles über die letzten zehn Jahre“. Und wieder war es ein schönes Wochenende.