Chronischer Tinnitus: Da kann man was machen!

Dr. Andrea Wülker, Foto: fotolia, Brian Jackson

Es pfeift, rauscht oder summt seit mindestens drei Monaten im Ohr – so schildern Patienten mit chronischem Tinnitus ihre Wahrnehmung. Was hilft?

Tinnitus ist ein Symptom des Hörsystems. Man geht heute davon aus, dass das Ohrgeräusch in vielen Fällen zunächst auf einem primären pathophysiologischen Prozess im Ohr beruht. Später sollen hochempfindliche auditorische Rückkoppelungsmechanismen betroffen sein und bei einem Teil der Patienten übersteigerte Reizantworten hinzukommen.

Techniken zur Desensibilisierung einüben

Mit dem Ergebnis, dass sich die Aufmerksamkeit ständig auf das Ohrgeräusch richtet und Angst sowie Schlafstörungen resultieren können. Grundlage der Diagnostik ist eine sorgfältige Anamnese. Damit wird nicht nur Dauer, Lokalisation und Qualität des Ohrgeräuschs abgefragt. Die Anamnese erlaubt auch eine Einschätzung des Schweregrads und möglicher Komorbiditäten, heißt es in der S3-Leitlinie „Chronischer Tinnitus“. Bei Tinnitus-Patienten kommt insbesondere folgende Dia­gnostik in Betracht:


Wie störend sind die 
Ohrgeräusche?

Kompensierter Tinnitus:
Der Patient registriert das Ohrgeräusch zwar, kann aber so damit umgehen, dass keine zusätzlichen Symptome auftreten. Die Lebensqualität ist nicht wesentlich beeinträchtigt. Kein oder nur geringer Leidensdruck.


Dekompensierter Tinnitus:
Das Ohrgeräusch wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus und führt zur Entwicklung oder Verschlimmerung einer Komorbidität (z.B. Angst, Depression, Schlaf- oder Konzentrationsstörung). Die Lebensqualität ist wesentlich beeinträchtigt. Es besteht hoher Leidensdruck.

  • HNO-ärztliche Untersuchung einschließlich Trommelfellmikroskopie, Nasopharyngoskopie und Prüfung der Tubendurchgängigkeit,
  • Untersuchung von Gebiss und Kauapparat,
  • Auskultation des Ohres und der A. carotis,
  • orientierende, funktionelle HWS-Diagnostik sowie neurologische Untersuchung.
  • Im Einzelfall kann eine weitere diagnostische Abklärung sinnvoll sein, etwa eine Evaluation der psychischen Beeinträchtigung, eine Hirnstammaudiometrie oder eine Dopplersonographie der hirnversorgenden Arterien (z.B. bei pulsatilem Tinnitus).


Die Behandlung des chronischen – also seit mindestens drei Monaten bestehenden – Tinnitus richtet sich nach Schweregrad und eventuellen Komorbiditäten (s. Kasten 1). Ein wichtiges Therapieziel ist der Erwerb von Techniken, mit denen sich eine Desensibilisierung erreichen lässt. Im Einzelfall gelingt sogar eine komplette Habituation, d.h., der Patient „überhört“ seine Ohrgeräusche vollständig.

Wirksamkeit von systemischer Steroidtherapie nicht belegt

Als Grundlage jeder Therapie empfehlen die Leitlinienautoren ein Tinnitus-Counseling, also eine Beratung. Dabei wird der Patient über die Gutartigkeit seines Ohrgeräuschs aufgeklärt und erfährt, wie er selbst zu seiner Therapie beitragen kann (s. Kasten 2). Liegt zusätzlich eine Schwerhörigkeit vor, sollten die Betroffenen mit Hörgeräten versorgt werden.


Außer der Basistherapie mit Counseling steht vor allem die manualisiert-strukturierte tinnitusspezifische kognitive Verhaltenstherapie zur Verfügung – als Einzel- oder Gruppenbehandlung. Sie hat sich im Hinblick auf Tinnitusbelastung, Lebensqualität und Depressionsscores als hochwirksam erwiesen und wird daher in der neuen Leitlinie ausdrücklich empfohlen.


Eine spezifische medikamentöse Therapie mit nachgewiesener Wirksamkeit bei chronischem Tinnitus gibt es derzeit nicht. So liegen beispielsweise keine kontrollierten Studien zur systemischen Steroidtherapie von Patienten mit chronischem Tinnitus vor. Zur intratympanalen Kortikosteroidgabe existieren einige wenige Studiendaten – doch ohne Signifikanz. Die Wirksamkeit von Nahrungsergänzungsmitteln und Antioxidanzien wird in den Leitlinien nicht bewertet. Begründung: Es liegen dazu keine „berücksichtigungsfähigen“ Studien vor.


Bei Patienten mit dekompensiertem, chronischem Tinnitus finden sich nicht selten Komorbiditäten wie Angst oder Depression. In diesen Fällen sollte eine entsprechende medikamentöse Unterstützung erfolgen.

Wichtige Infos für Tinnitus-Patienten

Im Arzt-Patienten-Gespräch sollten folgende Botschaften vermittelt werden:

  • Es gibt Ohrgeräusche, die andere (auch der Arzt) nicht wahrnehmen.

  • Nach entsprechender Untersuchung sollte klargestellt werden, dass die Geräusche nicht Symptome eines Hirntumors oder einer anderen lebensbedrohlichen Erkrankung sind, sondern eine Störung im Hörsystem.

  • Das Sistieren eines Ohrgeräuschs ist auch noch nach Jahren möglich – hilfreiche Information für Betroffene. Im chronischen Stadium sollte sich der Patient nicht darauf versteifen, den Tinnitus komplett loswerden zu wollen. Als primäres Ziel gilt die Habituation, die den Weg zum „Vergessen“ des Ohrgeräuschs ebnet.

  • Der Patient kann selbst etwas dafür tun, dass der Tinnitus nicht mehr so sehr stört. Wichtig ist die Vermeidung von Stille. Das bedeutet: Der Schall in der täglichen Umgebung sollte auf angenehme Weise „angereichert“ werden. Die meisten Menschen empfinden Naturklänge als wohltuend, beispielsweise Regen, Wind oder das Rauschen eines Bachs. Als „Schallquellen“ eignen sich entsprechende CDs – oder z.B. auch ein Tischspringbrunnen.

  • Bei Patienten, die über eine Beeinträchtigung ihrer Kommunikationsfähigkeit klagen, liegt außer dem Tinnitus fast immer eine Hörminderung vor. In diesem Fall sollte der Patient frühzeitig ein Hörgerät erhalten, um die Tinnitussensibilisierung zu reduzieren: Denn wer Sprachsignale wieder besser versteht, muss sich nicht so sehr auf seine Ohrgeräusche fixieren.


Quelle: Hans-Peter Zenner et al., S3-Leitlinie „Chronischer Tinnitus“ 2015; AWMF-Registernr. 017/064

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