Freie Bahn für die Viren?

Dr. Sonja Kempinski

In der untersuchten Kohorte von mehr als 200.000 stationär behandelten Coronapatienten wurden 14.740 beatmungspflichtig, ca. 21.800 Infizierte starben.
In der untersuchten Kohorte von mehr als 200.000 stationär behandelten Coronapatienten wurden 14.740 beatmungspflichtig, ca. 21.800 Infizierte starben. © iStock/Tempura

Immunsuppression in Pandemie­zeiten ist eine knifflige Angelegenheit. Aktuell steht Rituximab­ im Fokus. Denn es gibt Hinweise, dass der Antikörper­ das Sterberisiko von hospitalisierten Patienten mit COVID-19 erhöht.

Beeinflusst die langfristige Therapie mit Immunsuppressiva wie Rituximab die Outcomes hospitalisierter COVID-­19-Patienten? Dr. Kathleen­ Andersen­, Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health, Baltimore, und Kollegen gingen dieser Fragen in einer retrospektiven Kohortenstudie mit über 200.000 Patienten nach. Diese hatte man zwischen Januar 2020 und Juli 2021 aufgrund von COVID-19 stationär aufnehmen müssen. Rund 16.500 von ihnen waren in einem Zeitraum von mindestens zwei Wochen vor Krankenhauseinweisung mit immunsuppressiven Medikamenten (siehe Kasten) behandelt worden. 

Welche Immunsuppressiva?

Als immunsuppressive Therapie galt in der Studie die Behandlung mit einem oder mehr der folgenden Medikamente:
  • Wirkstoffe wie IL-Inhibitoren, Januskinaseinhibitoren, TNF-Blocker
  • Antimetabolite wie Azathioprin, Calcineurininhibitoren, Mycophenolat-Mofetil
  • Krebsmedikamente wie Anthracycline, Checkpoint-Inhibitoren, Cyclophosphamid, Proteinkinaseinhibitoren, gezielte Krebstherapien
  • Rituximab, orale Glukokortikoide wie Dexamethason, Prednison oder Methylprednisolon

Sie erhielten die Therapie aufgrund einer bestehenden rheumatologischen Erkrankung (33 %), nach einer Organtransplantation (26 %) oder einer Krebserkrankung (22 %). Endpunkte der Studie waren die Zeit von der Einweisung bis zur invasiven Beatmung sowie die Zeit bis zum Tod in der Klinik, um daraus das jeweilige Risiko zu ermitteln. In der gesamten Kohorte wurden 14.740 Patienten beatmungspflichtig und 21.801 starben. Das Risiko, dass eines dieser beiden Ereignisse eintrat, war den Rohdaten zufolge für Immunsupprimierte höher (9 % vs. 6 % sowie 14 % vs. 9 %). Laut Dr. Andersen und Kollegen ein wenig verwunderliches Ergebnis: Immunsupprimierte waren in der Regel älter und wiesen mehr Komorbiditäten auf als Patienten, die nicht unter einer Immunsuppression standen.

Berücksichtigung von Kofaktoren änderte alles

Um Einflussfaktoren wie Komorbiditäten, Alter, Rauchstatus und BMI zu berücksichtigen, wurden 12.841 Immunsupprimierte und 29.386 Nicht-Immunsupprimierte aus der Gesamtkohorte in ein Propensitiy Score Matching eingeschlossen. Dabei werden Vergleichspaare gebildet, die sich in den Kofaktoren möglichst ähnlich sind. Und das Ergebnis dieser Berechnung sah anders aus: Die Immunsuppression reduzierte das Risiko für eine invasive Beatmung, und das erhöhte Risiko für den Tod in der Klinik löste sich in Luft auf. Nun analysierten die Forscher den Einfluss der einzelnen Medikamente. Es zeigte sich, dass keine der 15 Medikamentenklassen das Risiko für eine invasive Beatmung erhöhte. Die Auswertung zeigte: Entweder hatte der Wirkstoff keinen Einfluss darauf oder er reduzierte das Risiko sogar. Was den insgesamt fehlenden Einfluss auf die COVID-Sterblichkeit in der Klinik betraf, ergab die genauere Betrachtung zwei Sonderfälle: Januskinasehemmer reduzierten die Krankenhausmortalität signifikant (HR 0,42). Rituximab erhöhte sie dagegen – und zwar sowohl bei den rheumatologischen als auch den onkologischen Patienten (HR 1,72 bzw. 2,57). Entgegen anderslautender Hinweise erwies sich die (vorherige) langfristige Einnahme von Immunsuppressiva in der großen untersuchten Kohorte nicht als riskant für hospitalisierte COVID-19-Patienten, schließen die Wissenschaftler – mit Ausnahme von Rituximab. Ob die weitere Einnahme immunsuppressiver Medikamente während des Klinikaufenthalts nützlich oder schädlich ist, sei nicht Ziel dieser Studie gewesen und müsse in weiteren Untersuchungen geklärt werden. Doch was bedeuten diese Ergebnisse nun für die Therapie mit Rituximab, einem Wirkstoff, der für manche Indikationen unverzichtbar scheint? Laut dem Rheumatologen Dr. David­ Liew, University of Melbourne, Parkville, und seinem Kollegen Dr. Philip ­Robinson von der University of Queensland in Herston haben Ärzte und Patienten zwei Möglichkeiten. Ist Rituximab unentbehrlich, sollte möglichst alles versucht werden, um das Infektionsrisiko zu reduzieren. Das bedeutet für den Arzt, vor Therapiestart gegen COVID-19 zu impfen, und für die Patienten: AHA-Maßnahmen penibelst einhalten! Eine Schlüsselstellung könnte für Rituximab-Patienten zukünftig auch die Postexpositionsprophylaxe mit neutralisierenden monoklonalen Antikörpern wie Casirivimab und Imdevimab einnehmen. Rituximab gegen einen anderen Wirkstoff auszutauschen, wäre die zweite Option. Bei der rheumatoiden Arthritis dürfte das aufgrund der großen Auswahl an Medikamenten leichter sein als z.B. bei einer ANCA-assoziierten Vaskulitis, so die australischen Rheumatologen. Kritisch bleibt zudem, dass insbesondere bei manchen seltenen Erkrankungen eine der wenigen guten Behandlungsoptionen aus Rituximab (off label) besteht. Um für jeden Patienten die beste Lösung zu finden, fehlen bislang robuste Daten. Eine Lücke, die dringend geschlossen werden müsse.

Quellen:
1. Andersen KM et al. Lancet Rheumatol 2021; DOI: 10.1016/S2665-9913(21)00325-8
2. Liew DFL, Robinson PC. Lancet Rheumatol 2021; DOI: 10.1016/S2665-9913(21)00362-3

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In der untersuchten Kohorte von mehr als 200.000 stationär behandelten Coronapatienten wurden 14.740 beatmungspflichtig, ca. 21.800 Infizierte starben.
In der untersuchten Kohorte von mehr als 200.000 stationär behandelten Coronapatienten wurden 14.740 beatmungspflichtig, ca. 21.800 Infizierte starben. © iStock/Tempura