Kleines Einmaleins der Psychopharmakologie für Diabetologen

Ulrike Viegener

Eine Substanzklasse für eine Störung? Das gilt nicht mehr. Eine Substanzklasse für eine Störung? Das gilt nicht mehr. © iStock/Grafner

Psychische Störungen sind enger mit der Dia­betologie verknüpft, als man gemeinhin glaubt. Nicht nur, dass Menschen mit Diabetes vergleichsweise häufig an komorbiden Ängsten oder einer Depression leiden. Wer regelmäßig mit Dia­betespatienten zu tun hat, sollte vor allem aufgrund medikamentöser Wechsel- und Neben­wirkungen ein paar pharmakologische Grundlagen kennen.

Gegen Depressionen gibt’s Antidepressiva, bei Schlafstörungen werden Hypnotika verschrieben und wer unter pathologischen Ängsten leidet, bekommt – na klar – Anxiolytika. Diese 1-zu-1-Zuordnung von Psychopharmaka zu einzelnen psychischen Störungen ist pragmatisch, widerspricht jedoch den Befunden aus Genetik und Bildgebung. Vielmehr finden sich starke Überlappungen zwischen den verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen. In der Psychiatrie geht man deshalb davon aus, dass vielmehr Netzwerkfunktionen im Gehirn gestört sind, als nur die einzelnen Transmittersysteme, erklärte Professor Dr. Dieter­ F. Braus­, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, HELIOS Dr. Horst Schmidt Kliniken Wiesbaden.

In der Behandlung von Angststörungen oder einer Depression gehe es in erster Linie darum, die synaptische und zelluläre Plastizität anzuregen und die Neuroprotektion zu fördern. Die typischerweise als Antidepressiva bezeichneten Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Inhibitoren (SNRI) zum Beispiel kommen in ganz unterschiedlichen Indikationen zum Einsatz: bei Herabstimmung, Ängsten, neuropathischen Schmerzen oder einer Reizblase. Weil diese mehrdimensionalen Wirkstoffe also auch in andere Stoffwechselvorgänge eingreifen können, sei es wichtig, die verwendeten Substanzen genau zu kennen und Erfahrungen zu sammeln, betonte Prof. Braus. Vor allem in Hinblick auf mögliche Neben- und Wechselwirkungen.

Für Nicht-Psychiater empfahl er ein medikamentöses Grundrüstzeug aus einigen wenigen Psychopharmaka, die für den klinischen Alltag meist ausreichen (s. Tabelle). Trotzdem sollte vor deren Einsatz beim jeweiligen Patienten ein Interaktionscheck durchgeführt werden. Manche Psychopharmaka seien wahre Interaktionskanonen, so Prof. Braus. Gerade in der Therapie von Menschen mit einer Stoffwechselstörung wie Dia­betes und deren Komorbiditäten sei dies wichtig. Ein hilfreicher Link dazu finden sich am Textende.

Medikamentöses Grundrüstzeug für Nicht-Psychiater
SubstanzklasseIndikationBeispiele Wirkstoff und Dosierung
SSRIdepressive Störungen, Angsterkrankungen, Zwänge, neuropathische Schmerzen Escitalopram (5–20 mg),
 Sertralin (25–150 mg)
SNRIdepressive Störungen, Angsterkrankungen, Zwänge, neuropathischer SchmerzEscitalopram (5–20 mg), Sertralin (25–150 mg)
MelatoninagonistenRhythmusstörungen unter Angst und Depression Agomelatin (25–50 mg)
DA-NE-RIAnhedonie, vaskuläre Enzephalopathie mit DepressionAgomelatin (25–50 mg)
Kalziumkanalblocker, indirekt GABAergAngst, SchmerzPregabalin (25–600 mg)
direkte GABA-Agonistenschwere nicht-organische InsomnieZopiclon (3,75 –7,5 mg),
 nur im Notfall! Lorazepam (0,5–5 mg)
D2-AntagonistenPsychosenHaloperidol (0,5–5 mg)
D2-5HT2a-AntagonistenPsychosenRisperidon (0,5–6 mg)
Multi-Receptor-Acting-Substanceniedrig dosiert: sedierend moderat dosiert: antidepressiv höher dosiert: Phasenprophylaktikum hoch dosiert: antipsychotischRisperidon (0,5–6 mg)
nach Prof. Dr. Dieter F. Braus

Mehr Heißhungerattacken unter Mirtazapin

Eine zentrale Rolle spielt dabei das CYP-System, über das viele Psychopharmaka metabolisiert werden. Kritisch mit Blick auf mögliche Arzneimittelinteraktionen sind vor allem CYP2C19-Substrate wie Sertralin oder Amitriptylin (s. Kasten). Deshalb sollte man bevorzugt auf Medikamente zurückgreifen, die nicht über dieses Enzym verstoffwechselt werden, beispielsweise Duloxetin, Risperidon und Mirtazapin (cave: appetitanregend!). 

Gleiche Dosis, unterschiedliche Wirkung

Das CYP2C19-Gen weist Polymorphismen auf, die die CYP2C19-Enzymaktivität beeinflussen. Vor dem Einsatz von Medikamenten, die über das CYP-System verstoffwechselt werden, sollte der genetische Hintergrund des Patienten bekannt sein. Je nach vorliegendem Allel werden verschiedene Metabolisierungstypen unterschieden. Rund 43 % der Europäer sind „normale“ Metabolisierer, bei denen die empfohlene Normdosierung ausreichen. Etwa jeder Vierte gehört zu den „Pure Metabolizern“, bei dem die Standarddosis von CYP2C19-Substraten nach unten angepasst werden muss. Bei knapp 32 % hat man es mit einem „Ultra Rapid Metabolizer“ zu tun, der eine höhere Dosis benötigt, führte Prof. Braus aus.

In der medikamentösen Therapie von Menschen mit Diabetes interessiert natürlich der potenzielle Einfluss auf den Glukosestoffwechsel und das Gewicht. In einer US-amerikanischen retrospektiven Kohortenstudie wurden die Effekte verschiedener „Antidepressiva“ der zweiten Generation untersucht.1 Am schlechtesten schnitt dabei Mirtazapin ab. Im Mittel 9 kgKG legten die Teilnehmer im zweijährigen Beobachtungszeitraum zu, was einem Anstieg des Body-Mass-Index (BMI) um 2,6 Punkte entspricht. Dies stehe in Einklang mit der klinischen Erfahrung, dass Mirtazapin häufig zu nächtlichen Heißhungerattacken führe, sagte der Referent. Sertralin ging mit einer durchschnittlichen BMI-Zunahme von 1,7 Punkten einher. Gewichtstechnisch am günstig­s­ten hatten sich nicht-rauchende Patienten unter Bupropion entwickelt, die im Mittel um 0,4 BMI-Punkte abnahmen. Auf der anderen Seite können auch Medikamente, die bei Diabetes zum Einsatz kommen, das Depressionsrisiko erhöhen. Wenn sie z.B. eine genetisch veranlagte Disposition oder ein Trauma demaskieren. Bekannt ist ein solcher Effekt von Kortiko­steroiden und Interferonen. Zudem haben Forschende aus den USA in einer groß angelegten Studie herausgefunden, dass diverse Substanzen das Risiko für Depressionen erhöhen können. Wer in die Behandlung von Diabetespatienten involviert ist, sollte in diesem Zusammenhang besonders kardiovaskuläre Medikamente im Auge behalten. Beta-Blocker wie Metoprolol und Atenolol sowie der ACE-Hemmer Enalapril weisen gemäß den Ergebnissen eine relevante depressiogene Wirkung auf. Dasselbe gilt für die Langzeiteinnahme von Ibuprofen, Omeprazol und Ranitidin.

Erst die Depression, dann der Typ-2-Diabetes?

Mit Blick auf die eingangs angesprochene Überlappung von verschiedenen Erkrankungen muss auch bedacht werden, dass sich ein Diabetes und psychische Störungen wechselseitig beeinflussen können. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine aktuelle schwedische Kohortenstudie, in die Daten von 1,5 Millionen Personen eingeflossen sind. Darin konnte gezeigt werden, dass Menschen, die in ihrer Kindheit oder Jugend an einer Depression gelitten haben, ein zweifach erhöhtes Risiko für einen Typ-2-Diabetes im Erwachsenenalter tragen.

1. Arterburn, D et al. J Clin Med 2016; 5: 48; DOI: 10.3390/jcm5040048

Quelle: Diabetes Update 2021

Interaktionscheck zu möglichen medikamentösen Wechselwirkungen: www.drugs.com/drug_interactions.html

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Eine Substanzklasse für eine Störung? Das gilt nicht mehr. Eine Substanzklasse für eine Störung? Das gilt nicht mehr. © iStock/Grafner