Tauziehen um Selen bei kranker Schilddrüse

Dr. Dorothea Ranft

Ein regelrechtes Inferno herrscht in der Schilddrüse dieses Basedow-Patienten bedingt durch die Hypervaskularisation. Ein regelrechtes Inferno herrscht in der Schilddrüse dieses Basedow-Patienten bedingt durch die Hypervaskularisation. © Albertinen-Krankenhaus Hamburg/sonographiebilder.de

Nicht nur Jod, auch Selen spielt eine wichtige Rolle für die Gesundheit der Schilddrüse – beispielsweise bei Autoimmunthyreoiditis oder endokriner Orbitopathie. Doch rechtfertigt das eine Supplementierung mit Selen? Zwei Endokrinologen diskutierten das Für und Wider.

Pro

Selen ist ein essenzielles Spurenelement. In Form der 21. Aminosäure Selenocystein ist es im Körper in zahlreichen Enzymen enthalten, die antioxidativ und antientzündlich wirken, erklärte Professor em. Dr. Roland Gärtner, LMU München, in seinem Plädoyer für die Supplementierung. Das selenreichste Organ im menschlichen Körper ist die Schilddrüse. Der Grund: Selenhaltige Glutathionperoxidasen bauen das bei der Hormonsynthese anfallende toxische Wasserstoffperoxid (H2O2) ab, um die Zellen zu schützen.

Eine bisher oft unterschätzte Rolle spielt der Selenmangel bei der Entwicklung der Struma nodosa. Allein mit einer unzureichenden Jodversorgung sei die auffällige Proliferation der Schilddrüsenzellen nicht zu erklären, so der Experte. Erst der begleitende Selenmangel sorgt dafür, dass es zu Genmutationen kommt mit nachfolgender Expansion von Zellklonen, aus denen sich schließlich Schilddrüsenknoten entwickeln. Auch dem myxödematösen Kretinismus liegt ein kombinierter Mangel an Selen und Jod zugrunde, der bereits im Uterus zu einer Destruktion der kindlichen Schilddrüse führt.


„Proliferation der Thyreozyten mit Jodmangel alleine nicht zu erklären“

Epidemiologische Studien ergaben, dass Patienten mit Selenmangel häufiger Knotenstrumen und eine Autoimmunthyreoiditis entwickeln. Prof. Gärtner analysierte in einer eigenen Untersuchung den Einfluss der Ernährung auf die Bildung von Thyreoperoxidase-Antikörpern (TPO-Ak). Im Vergleich zu Mischköstlern waren Veganer und Vegetarier deutlich schlechter mit Jod und Selen versorgt und hatten höhere TPO-Ak-Titer. Eine aktuelle Metaanalyse kommt zu dem Schluss, dass die Selen-Supplementation bei Patienten mit chronischer Autoimmunthyreo­iditis zu einem signifikanten Abfall der TPO-Ak führt und außerdem die im Echomuster erkennbare lymphozytäre Proliferation verringert. Ein Effekt auf den Langzeitverlauf der Erkrankung (TSH) ließ sich jedoch nicht zeigen. Dies führte Prof. Gärtner darauf zurück, dass bis zur Entwicklung einer Hypothyreose oft viele Jahre vergehen. Etwa die Hälfte der Antikörper-Träger mit normalem TSH bleibt mehr als zehn Jahre euthyreot.

„Veganer und Vegetarier haben höhere TPO-Antikörper-Titer“

Als weiteres Einsatzfeld für die Selen-Supplementation nannte Prof. Gärtner den Morbus Basedow. Bei Patienten mit endokriner Orbitopathie lässt sich der Exophthalmus signifikant reduzieren. Aus eigener Erfahrung weiß der Endokrinologe, dass Selen die Wirkung der thyreo­statischen Therapie bei Basedow-Patienten verbessern und die Rezidivrate verringern kann.

Contra

In seinem Kontra-Plädoyer wies Dr. Dieter Graf, niedergelassener Endokrinologe in Lüneburg, darauf hin, dass sich ein Abfall der TPO-Antikörper nicht in allen Studien reproduzieren ließ. Die Mehrzahl der Arbeiten habe allerdings eine signifikante Reduktion um 14 %–46 % erzielt, wenn die Supplementation mit 200 µg Selenit oder Selenomethionin erfolgte. Als Beispiel für die begrenzte Wirkung des Spurenelements bei chronischer Autoimmunthyreo­iditis führte Dr. Graf einen Review von 16 kontrollierten Studien an. In der Selengruppe hatten nur die mit Levothyroxin (L-T4) substituierten Patienten nach einem Jahr noch signifikant niedrigere Antikörpertiter. Ohne L-T4-Substitution zeigte sich der Titer-Abfall nur nach drei Monaten. In zwei Studien mit Patienten mit hohen Titern hatte Selen ohne L-T4 auch nach drei Monaten keinen Einfluss auf die Antikörper. Die Autoren des Reviews raten von einer Selen-Supplementation ab – allerdings nicht wegen der divergierenden Ergebnisse. Ihrer Meinung nach ist ein Abfall der zirkulierenden TPO-Antikörper noch kein Grund für eine Therapie, zumal der klinische Nutzen einer Selengabe durch bisherige Studien nicht belegt sei.

„In fortgeschrittenen Stadien wird der Verlauf durch Selen nicht nennenswert beeinflusst“

Auch hält Dr. Graf den gemessenen Antikörper-Abfall nicht für klinisch relevant und rät deshalb von einer routinemäßigen Selen-Substitution bei Patienten mit Autoimmunthyreoiditis ab. In fortgeschrittenen Stadien kann man den Verlauf der Erkrankung mit Selen nicht mehr nennenswert beeinflussen. Auch die Verbesserung von Lebensqualität und Stimmung hält der Endokrinologe für fraglich. In kleineren Studien konnte eine Verbesserung des Wohlbefindens gezeigt werden, aber eine große Studie mit etwa 500 Patienten vermochte diesen Effekt nicht zu bestätigen. Bei Morbus Basedow sieht Dr. Graf ebenfalls keine eindeutige Indikation zur Selengabe. Die Therapie von mittelschweren bis schweren Formen erfolgt mit Steroiden und/oder Retrobulbärbestrahlung. Und die leichte endokrine Orbitopathie verläuft nur in 15 % der Fälle progredient, 65 % bleiben unverändert und 20 % bessern sich spontan. Entsprechend genügt meist eine Wait-and-see-Strategie, bei Bedarf ergänzt durch künstliche Tränen und Augensalben.

„Orbitopathie geht zurück, Besserung der Lebensqualität jedoch fraglich“

In einer Untersuchung mit 152 Patienten mit milder Erkrankung verbesserte sich der Augenbefund mit Selen in 61 %, mit Pentoxifyllin in 35 % und mit Placebo in 36 %, was Dr. Graf vor allem auf die Spontanregression zurückführt. Für einen Seleneffekt spricht jedoch, dass sich die endokrine Orbitopathie mit Selen nur in 7 % verschlechterte, mit Pentoxifyllin in 10 % und mit Placebo in 26 %. Auch der Aktivitätsscore fiel mit Selen signifikant stärker ab als in den anderen Gruppen. Eine Steigerung der Lebensqualität ließ sich angesichts der geringen Verbesserungen nicht eindeutig nachweisen.

123. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin Mannheim

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