
Vereint ans Filterorgan

Angenommen, ein 72-jähriger Patient kommt in Ihre Praxis. Seit mehr als zehn Jahren leidet er unter einer Niereninsuffizienz, mittlerweile liegt die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) nur noch bei 37 ml/min/1,73 m². Nun steht ein Ultraschall an, und dabei fällt Ihnen in der linken Niere ein etwa 3,1 cm großes, durchblutetes Gebilde auf. Sie vermuten ein Nierenzellkarzinom (RCC) und schicken den Mann zum CT, wo sich der Verdacht bestätigt. Und dann?
Noch vor 20 Jahren hätte der Weg vieler Nierenkrebserkrankter wohl direkt in den urologischen OP geführt, um standardmäßig das betroffene Organ nebst Nebenniere zu entfernen. Heutzutage ist diese eindimensionale Herangehensweise obsolet, wie Expert:innen um Prof. Dr. Grant D. Stewart von der Universität Cambridge schreiben. Auch beim RCC seien inzwischen Fachleute verschiedener Disziplinen involviert. Diagnostische Bildgebung, Bestrahlung, Pathologie und Systemtherapien – überall habe es wesentliche Fortschritte gegeben, so die Wissenschaftler:innen. Nur: In der Überlebensrate schlagen sich die moderneren Optionen nicht nieder. Sie bewegt sich – anders als bei anderen Tumoren – praktisch kaum nach oben.
Zufallsbefund ist immer noch der Regelfall
Der eingangs geschilderte Fall ist nicht ungewöhnlich und stammt aus dem praktischen Alltag der Autor:innen. Nach wie vor entdeckt man die meisten Nierenkarzinome zufällig. Die Betroffenen haben, wenn überhaupt, nur unspezifische Symptome. Zudem trifft es überproportional häufig Patient:innen mit Niereninsuffizienz. Je geringer die Filtrationsleistung, umso höher das Risiko für einen Tumor. Nach Angaben der Kolleg:innen steigt es bei einer eGFR von 45–59 ml/min bereits um 39 %, Personen mit einer eGFR < 30 ml/min haben ein 2,28-faches Risiko für ein RCC.
Auch die Art, wie der Tumor im Beispielfall entdeckt wurde, ist typisch. Oft liefert die Sonografie den ersten Hinweis. Standard für die weitere Abklärung bildet dann das Drei-Phasen-CT von Abdomen,
Becken und Thorax – wobei man auf das Lungen-CT bei asymptomatischen Läsionen < 4 cm laut den Autor:innen auch verzichten kann, da das Risiko für Lungenmetastasen hier unter 1 % liege. Benigne und maligne Strukturen kann das CT allerdings nicht unterscheiden. Solange diese Trennung nicht-invasiv, zum Beispiel über neue Bildanalyseverfahren oder maschinelles Lernen, scheitert, bleibt die Biopsie nach Ansicht der Expert:innen die genaueste Methode, um den Tumor zu charakterisieren.
Dies jedoch ist beim RCC im Gegensatz zu anderen Krebsarten nicht obligatorisch – und das, obwohl 14 % der kleinen Läsionen kein RCC darstellen und nicht einmal jede vierte so aggressiv sei, dass man sie operieren müsse, merken die Autor:innen an. Auch mit Vorbehalten gegenüber der Methode räumen sie auf: Aktuelle Daten zeigten, dass die Biopsie sehr sensitiv, spezifisch und sicher sei. Im Median stimme ihr Ergebnis in neun von zehn Fällen mit dem späteren pathologischen Befund überein. Folgenschwere Blutungen seien mit 0,7 % selten, auch die Gefahr, Tumorzellen durch die Punktion zu verbreiten, halten die Kolleg:innen beim Einsatz von Koaxialnadeln für viel geringer als die Risiken einer unnötigen OP.
Ob und wie biopsiert wird, sollte man jedoch nicht ohne die Expertise eines oder einer interventionellen Radiolog:in entscheiden, mahnen die Autor:innen. Denn gerade bei sehr kleinen und schwer zugänglichen Veränderungen könne das Prozedere knifflig sein und erfordere zum Teil CT-Steuerung. Mit ein Grund, warum man jedes potenzielle RCC bereits nach der initialen Bildgebung im Tumorboard besprechen sollte.
Zudem empfehlen die Autor:innen die Gewebeanalyse vorab, wenn sie zur Therapieentscheidung beiträgt. Wolle sich ein Betroffener in jedem Fall operieren lassen, erübrige sich die Biopsie. Auch im Fall von Tumoren > 7 cm biopsiere man nur selten, da sie mit größerer Wahrscheinlichkeit bösartig seien. Für den Patienten mit der Niereninsuffizienz vom Grad 3 wäre eine Biopsie der kleinen Läsion dagegen sinnvoll, um eine unnötige OP mit dem Risiko der weiteren Abnahme der Filtrationsleistung zu vermeiden.
Zusammen mit dem optimalen onkologischen Ergebnis steht der Erhalt der Organfunktion im Mittelpunkt der Behandlung. Wenn möglich, bilden daher nephron-sparende Operationen – am besten roboterassistiert – den Standard in der Therapie von cT1-Tumoren sowie bei Patient:innen mit ohnehin schon eingeschränkter Nierenfunktion. Ob das machbar ist, schätzt man idealerweise zusammen mit Kolleg:innen ab, die uroradiologische Expertise und Erfahrung in partieller Nephrektomie mitbringen. 3D-CT-Aufnahmen können die Entscheidung unterstützen.
Active Surveillance als Option mit Forschungsbedarf
Grundsätzlich kämen bei kleinen Läsionen auch andere Therapieformen infrage, erklären die Autor:innen. Allerdings ließen sich Verfahren wie Thermoablation oder stereotaktische ablative Radiotherapie (SABR) anhand der aktuellen Datenlage noch nicht abschließend bewerten. Die SABR als nicht-invasive Methode scheint jedoch bei schwer zu behandelnden Tumoren gute Resultate zu erzielen und sei Patient:innen vorbehalten, die medikamentös nicht ansprächen oder nicht operabel seien.
Der Mann im vorliegenden Fall entschied sich nach dem initialen Ultraschall für die aktive Überwachung des Tumorwachstums mit regelmäßiger Bildgebung und optionaler Biopsie. Nach Ansicht der Ärzt:innen eine wichtige Option, gerade bei niereninsuffizienten oder älteren Menschen, für die ein Nierenversagen in der Folge möglich wäre. Zumindest kurzfristig führt diese Strategie offenbar nicht zu einem schlechteren onkologischen Outcome als eine (Teil-)Resektion der Niere. Aber gerade im Hinblick auf Metastasierungen gebe es hier noch Forschungsbedarf.
Bei dem Patienten aus dem Beispielfall nahm der Durchmesser der Läsion innerhalb von drei Jahren auf 4 cm zu. Da die Biopsie ein klarzelliges Nierenzellkarzinom im Stadium 3 ergab, stimmte er nun einer roboterassistierten partiellen Nephrektomie zur Entfernung zu.
Erreicht ein lokal begrenztes RCC mehr als 7 cm, kommt in der Regel nur eine Operation infrage – vorausgesetzt, der Zustand des Erkrankten lässt das zu. Hier ist auch die Einschätzung von Anästhesist:innen und Geriater:innen gefragt, um die Risiken eines solchen Eingriffs gegen die des Wartens abzuwägen. Als Hilfsmittel empfiehlt das Team um Prof. Stewart den Risikokalkulator des American College of Surgeons (riskcalculator.facs.org). Zudem sollte man die Nebenniere unbedingt erhalten. Das sei wichtig für den gar nicht so seltenen Fall, dass später noch Metastasen in der kontralateralen Nebenniere aufträten.
Gegebenenfalls könne man auch andere Methoden wie die offene partielle Nephrektomie oder eine Ex-vivo-Operation wählen, um eine Dialyse zu verhindern. Möglicherweise bestehe zukünftig auch die Chance, Tumoren durch neoadjuvante Systemtherapien zunächst zu verkleinern, um sie dann schonender entfernen zu können. Das benötige aber mehr Forschungsarbeit, ebenso der Einsatz anderer Alternativen, inklusive SABR und Active Surveillance.
Ist der Tumor entfernt, schließt sich in der Regel ein Follow-up an, um die Nierenfunktion und das eventuelle Auftreten von Rezidiven im Auge zu behalten. Letzteres lässt sich über verschiedene Scores ermitteln.
Prof. Stewart und Kolleg:innen nutzten bei ihrem Patienten den Leibovich-Score, nach dem das Risiko im mittleren Bereich lag und der Mann eine 64%ige Chance darauf hatte, zehn Jahre metastasenfrei zu bleiben. Die European Association of Urology empfiehlt in diesem Fall im ersten Jahr zwei CTs von Thorax und Abdomen, gefolgt von einem CT jährlich bis zum fünften Jahr und zweijährlichen Kontrollen bis zum zehnten Jahr.
Nephrologische Überwachung gefordert
Patient:innen, bei denen z.B. Alter, Diabetes, Nierenfunktion und die geplante Operationsmethode eine postoperative eGFR < 45 ml/min als wahrscheinlich erachten lassen, sollten vor, während und nach dem Eingriff intensiv nephrologisch begleitet werden. Alles, was die Organfunktion verschlechtern könnte, müsse man angehen – also zum Beispiel Blutzucker und Blutdruck einstellen, Organperfusion erhalten oder bestimmte Kontrastmittel und andere Nephrotoxine meiden.
Allerdings sei weder klar, ob eine solche Nachsorge das Überleben wirklich verbessere, noch, welche Dauer optimal wäre, bemängelt das Team. Angesichts der Tatsache, dass in Sachen Überleben beim RCC kaum Fortschritte erzielt wurden, sei ein dringender Umschwung nötig. Fragt sich nur, wie der zu erreichen wäre. Im Moment liegen die Hoffnungen unter anderem auf molekularen Technologien und adjuvanten Therapien. Sie könnten helfen, Risiken besser abzuschätzen und Behandlungen passgenauer zu gestalten.
Quelle: Stewart GD et al. Lancet 2022; 400: 523-534; DOI: 10.1016/S0140-6736(22)01059-5
Falls Sie diesen Medizin Cartoon gerne für Ihr nicht-kommerzielles Projekt oder Ihre Arzt-Homepage nutzen möchten, ist dies möglich: Bitte nennen Sie hierzu jeweils als Copyright den Namen des jeweiligen Cartoonisten, sowie die „MedTriX GmbH“ als Quelle und verlinken Sie zu unserer Seite https://www.medical-tribune.de oder direkt zum Cartoon auf dieser Seite. Bei weiteren Fragen, melden Sie sich gerne bei uns (Kontakt).