Warum es auf einen differenzierten Blick und Arzneimittel abseits von Antianginosa ankommt

Dr. Sascha Gehrken

Bei der Therapie mit Antianginosa hat man die Qual der Wahl. Unterstützung bietet die neue ESC-Leitlinie. Bei der Therapie mit Antianginosa hat man die Qual der Wahl. Unterstützung bietet die neue ESC-Leitlinie. © 5second – stock.adobe.com

Medikamente sind bei der stabilen Angina pectoris unverzichtbar. Eine One-fits-all-Empfehlung gibt es aber auch in der neuen Leitlinie nicht. Im Gegenteil:Wer die individuelle Pathophysiologie hinter den Beschwerden versteht und die Angina nicht isoliert betrachtet, kann Betroffenen gezielter helfen.

Angina-Symptome verschlechtern die Prognose eines chronischen Koronarsyndroms. Auch eine stabile Angina pectoris ohne obstruktive KHK (ANOCA*) geht mit einer erhöhten Rate an schweren kardiovaskulären Ereignissen einher. Das Risiko ähnelt dabei dem der obstruktiven Herzerkrankung, betonte Prof. Dr. Birgit­ Hailer­, Klinik für Herz- und Gefäßmedizin, Philippusstift Essen. 

Um die Beschwerden optimal zu adressieren, muss man den zugrunde liegenden Mechanismus der myokardialen Ischämie kennen. In der neuen europäischen Leitlinie zum Management chronischer Koronarsyndrome wird zwischen epikardialen und mikrovaskulären Störungen unterschieden. Diese wiederum unterteilen sich jeweils in strukturelle und funktionelle Ursachen. Eine strukturelle epikardiale Störung wäre klassischerweise die fokale oder diffuse Atherosklerose. Zu den mikrovaskulären Problemen gehören z. B. eine extramurale Kompression durch linksventrikuläre Hypertrophie (strukturell) oder eine autonome Dysregulation mit vermehrter Vasokonstriktion (funktionell).

Zur Veranschaulichung der Krankheitscharakteristika wurde in der ESC**-Leitlinie ein Eisbergmodell eingeführt. Oberhalb des Wassers treibt die obstruktive KHK, die sich bei 50–70 % der Männer und 30–50 % der Frauen nach invasiver und funktioneller Diagnostik findet. Unterhalb der Oberfläche verbirgt sich die Angina ohne Nachweis obstruktiver Veränderungen, die immerhin 30–50 % der Männer und 50–70 % der Frauen betrifft. 

Das Dilemma mit der interventionellen Behandlung

Bei instabiler Angina bzw. akutem Koronarsyndrom ist die invasive Therapie der medikamentösen klar überlegen. Auf die stabile Angina trifft das allerdings nicht zu. Prof. Hailer sprach von einer „Pattsituation“, wobei sich mittlerweile eine gewisse Trendwende zeige. Gerade in Untersuchungen mit längerem Follow-up wie der ISCHEMIA-EXTEND-Studie machte sich eine Reduktion der kardiovaskulären Mortalität bemerkbar, wenn Patientinnen und Patienten eine invasive Behandlung erhalten hatten.

Aktuelle Daten aus der ORBITA-2-Studie belegen, dass sich mit der Revaskularisierung eine signifikante Symptomverbesserung erreichen lässt. Die Teilnehmenden litten unter einer stabilen Angina und wiesen objektiv eine Ischämie auf. Randomisiert unterzogen sie sich zwei Wochen nach Stopp der antianginösen Medikation entweder einer perkutanen Intervention (PCI) oder einer Placeboprozedur. Doch auch wenn die Anginaepisoden nach PCI signifkant zurückgingen, hatten noch knapp 60 % der so Behandelten residuelle Beschwerden. „Das heißt, wir haben das Problem nicht komplett gelöst damit“, konstatierte die Expertin. In der aktuellen ESC-Leitlinie zu chronischen Koronarsyndromen wird eine Revaskularisierung erst bei Versagen der medikamentösen Therapie oder bei hohem RIsiko für kardiovaskuläre Ereignisse empfohlen.

80 % haben eine endotheliale Dysfunktion

Im ANOCA-Bereich weist nur jede bzw. jeder Vierte eine Ischämie auf (INOCA***). Eine abnormale Vasodilatation – definiert als koronare Flussreserve < 2,5 – zeigt sich in 50 % der Fälle, Vasospasmen nach Acetylcholin-Provokation in 60 % und eine ­endo­theli­ale Dysfunktion in 80 %. Prof. Hailer sagte, dass man sich die Grenze zwischen obstruktiver und nicht-obstruktiver KHK nicht als Entweder-oder vorstellen darf: „Es kann sich in einem Gefäß auch beides abspielen, z. B. eine proximale RIVA-Stenose und Veränderungen in der Mikrozirkulation.“

Die ESC spricht sich klar für eine medikamentöse Therapie der stabilen Angina aus, wobei das Stufenschema von 2018 verlassen wird. Stattdessen gilt es, die Wirkstoffe passend zur individuellen Situation zu wählen. Orientieren sollte man sich u. a. an Komorbiditiäten, Komedikation, Verträglichkeit und eben der zugrunde liegenden Pathophysiologie. Neu ist in der aktuellen Leitlinie zudem eine Grafik zu sinnvollen Wirkstoffkombinationen (z. B. Betablocker plus Dihydropyridine). Ranolazin hat weiterhin eine IIa-Empfehlung, das Einsatzfeld von Ivabradin wurde limitiert für Personen mit eingeschränkter Pumpfunktion (< 40 %).

Die Empfehlungen zu Antianginosa basieren allerdings meist auf älteren Daten, merkte die Referentin an. In den letzten 15 Jahren gab es keine größeren randomisierten Studien. Es fehle inbesondere Evidenz zum Vergleich der einzelnen Substanzen, so Prof. Hailer. Darüber hinaus sei eine klare Outcomeverbesserung nur für Betablocker belegt, wenn sie im ersten Jahr nach Infarkt gegeben werden.

Die Expertin erinnerte daran, dass eine moderne Therapie des chronischen Koronarsyndroms nicht mehr bei der Ischämie ansetzt. „Wir können eine symptomatische Behandlung nicht isoliert stehen lassen.“ In einem ganzheitlichen Konzept beeinflussen sich die verschiedenen Ansätze gegenseitig. Ob antithrombotische, LDL-senkende oder gewichtsreduzierende Maßnahmen – „das ist irgendwie auch alles eine antianginöse Therapie“, formulierte es die Referentin bewusst provokant.

Plaqueeigenschaften werden immer wichtiger

Lipidsenker beispielsweise können die Beschaffenheit atherosklerotischer Plaques verändern, indem sie den Läsionen Fette entziehen. Steigt der Kalkanteil, führt das zu einer geringeren Ereignisrate. Und „was die Prognose verbessert, hat auf Dauer natürlich Auswirkungen auf die Symptomatik“, sagte Prof. Hailer. Die Kollegin sieht die Zukunft der Anginatherapie deshalb unter anderem in der Charakterisierung und Stabilisierung der Plaque­s. Großes Potenzial stecke außerdem im „genetic profiling“.

Quelle: DGK Herztage 2024

*      Angina with non-obstructive coronary ­arteries
**     European Society of Cardiology
*** Ischemia with non-obstructive coronary arteries

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