Wenn Amyloid auf die Nerven geht

Dr. Elke Ruchalla

Die Endprodukte lagern sich außerhalb der Zellen als Amyloid-Transthyretin (ATTR) ab. Die Endprodukte lagern sich außerhalb der Zellen als Amyloid-Transthyretin (ATTR) ab. © Artur – stock.adobe.com

Wird eine ATTR-Amyloidose nicht rechtzeitig
erkannt, kann das für die Betroffenen fatale Folgen haben. Tückisch daran ist, dass die Symptome sehr vielfältig aus­fallen und jede Unterform der Erkrankung unterschiedlich daherkommt.

Transthyretin, das überwiegend in der Leber produziert wird, ist normalerweise für den Transport von Thyroxin und – mithilfe des Retinol-bindenden Proteins – auch von Vitamin A verantwortlich. Üblicherweise liegt es als Tetramer vor. Zerfällt diese Struktur, denaturieren die Monomere teilweise, wobei Fehlfaltungen entstehen. Die Endprodukte lagern sich außerhalb der Zellen als Amyloid-Transthyretin (ATTR) ab.

Dabei können zahlreiche Organ­systeme betroffen sein, schreiben Dr. ­Helena ­Pernice und PD Dr. ­Katrin ­Hahn vom Amyloidosis Center der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Das ATTR sammelt sich beispielsweise im Herz, den Nieren, im Glaskörper und den Schleimhäuten des Magen-Darm-Trakts an. Häufig beeinträchtigt es dabei auch die Nerven. Man unterscheidet zwischen

  • vererbten Formen mit autosomal-dominantem Erbgang (variantenassoziierte Transthyretinamyloidose; ATTRv), bei denen eine Mutation dafür gesorgt hat, dass im Protein eine Aminosäure gegen eine andere ausgetauscht ist, und
  • spontanen Formen ohne Mutation (Wildtyp-ATTR; ATTRwt), die sich meist erst bei älteren Menschen bemerkbar machen

Die späte ATTRv-Variante schreitet schneller fort

Die früh einsetzende ATTRv-Amyloidose beginnt meist schon um das 30. Lebensjahr herum und führt relativ schnell zu einer Small-Fiber- und autonomen Neuropathie. Symptome der Small-Fiber-Neuropathie umfassen vor allem brennende, plötzlich einschießende Schmerzen und vermindertes oder fehlendes Temperaturempfinden in Händen und Füßen (strumpf- bzw. handschuhförmige Verteilung). Autonome Beschwerden wie ortho­statische Störungen, Diarrhöen/Obstipationen und erektile Dysfunktionen sind ebenfalls typisch. Mittels einer Hautbiopsie lassen sich eine verringerte Dichte der Nervenfasern und Amyloidablagerungen in der Epidermis nachweisen.

Schweregrade der Polyneuropathie nach Coutinho

Stadium 1: PNP-Symptome, aber der Patient kann ohne Hilfen gehen

Stadium 2: Der Patient benötigt Gehhilfen (Stock, Rollator)

Stadium 3: Selbstständiges Gehen ist nicht mehr möglich, der Patient ist auf einen Rollstuhl angewiesen oder komplett bettlägerig

Eine Large-Fiber-Neuropathie setzt bei frühen ATTRv-Varianten erst im Verlauf ein. Sie verursacht dann häufig innerhalb von etwa zwölf Jahren einen Verlust der Gehfähigkeit. Die Hypästhesien beginnen distal an Füßen und Händen, wandern aber immer weiter nach proximal. Störungen des Gangs und der Feinmotorik sind die Folgen (siehe Kasten).

Die späteren, etwa ab dem 50. Lebensjahr beginnenden Varianten dagegen machen sich meist direkt mit einer Neuropathie der großen Nervenfasern bemerkbar. Diese Formen der ATTRv schreiten wesentlich schneller voran und verlaufen unbehandelt nach wenigen Jahren letal.

Die Neurografie ist die Diagnostik der Wahl

Nerven­bio­psien zum Amyloidnachweis haben den Nachteil, dass sie einen dauerhaften Funktionsverlust des Nerven zur Folge haben. Außerdem können sie falsch negativ ausfallen, da sich das Amyloid unregelmäßig ab­lagert. Diagnostischer Goldstandard ist den Autorinnen zufolge daher die Neurografie.

ZNS und Augen können ebenfalls von der ATTRv-Amyloidose betroffen sein. Da Transthyretin zu einem geringen Anteil auch in der Retina und im Plexus choroideus gebildet wird, kann sich Amyloid in den weichen Hirnhäuten und im Glaskörper ablagern. ZNS-Symptome äußern sich beispielsweise als kognitive Störungen, Kopfschmerzen, Ataxie und Hydrozephalus. Hämorrhagische Schlaganfälle sind durch Ablagerungen des Amyloids in den Gefäßwänden ebenfalls nicht selten. Am Auge führen Glaskörpertrübungen zu Sehstörungen. Als Nachweis dient ein Amyloidnachweis im Liquor, weniger invasiv kann bei entsprechenden Symptomen eine MRT weiterhelfen.

Die Wildtyp-Amyloidose kann sich ebenfalls an den Nerven bemerkbar manchen, etwa als sensible Polyneuropathien, teilweise mit ataktischen Gangstörungen. Die Gehfähigkeit bleibt dabei aber erhalten. Radikuläre Schmerzen gehen oft auf eine Spinalkanalstenose durch Amyloiddeposition vor allem im lumbalen Ligamentum flavum zurück; sie betreffen jeden zweiten Kranken. Bei älteren Männern mit Karpaltunnelsyndrom sollte man an Amyloidablagerungen im Bindegewebe um den N. medianus als Ursache denken. Grundsätzlich steht aber bei der ATTRwt das Herz im Vordergrund: Dort verursacht das abgelagerte Amyloid eine Kardiomyopathie.

Bei erblicher ATTR empfiehlt sich eine genetische Beratung

Mittlerweile gibt es eine Reihe von Behandlungsmöglichkeiten, die an verschiedenen Punkten der Amyloidentstehung angreifen (siehe Tabelle).

Therapiemöglichkeiten bei ATTR-Amyloidose

 

Wirkungsweisen

Dosis

Kommentar

Tafamidis-Meglumin

„Small Molecule“, stabilisiert TTR durch Bindung an Thyroxinrezeptoren

  • 20 mg/d oral bei ATTRv-PNP Stadium 1

  • bis zu 80 mg/d bei Kardiomyopathie bei ATTRv und ATTRwt

Harnwegsinfektionen als häufigere Nebenwirkung

Patisiran

bindet an RNA-induced Silencing Complex (RISC) und bewirkt die Spaltung der Ziel-Messenger-RNA

  • 0,3 mg/kgKG i.v. alle drei Wochen bei ATTRv-PNP

  • Prämedikation mit Dexamethason, Paracetamol, Ranitidin und Histamin-1-Antagonist verhindert Infusionsreaktionen

  • Supplementierung von Vitamin A (2.500 IE/d)

  • möglicherweise auch kardial wirksam

  • Nebenwirkung periphere Ödeme

Vutrisiran

wie Patisiran

  • 25 mg s.c. alle drei Monate

  • Supplementierung von Vitamin A

  • bei ATTRv-PNP Stadium 1 und 2

Studie zur Wirksamkeit bei Kardiomyopathie (ATTRv und ATTRwt) läuft (HELIOS B)

Inotersen

Antisense-Oligonukleotid, bindet an mRNA, vermindert TTR über sekundären Abbau

  • 284 mg s.c. wöchentlich

  • Vitamin-A-Supplementierung

  • bei ATTRv-PNP Stadium 1 und 2

cave: Thrombozytopenie, Glomerulonephritis

Eplontersen

wie Inotersen

bei ATTRv-PNP

Phase-3-Studie läuft (NEURO-TTRansform)

PNP: Polyneuropathie; ATTRv: ATTR-Varianten-Amyloidose; ATTRwt: ATTR-Wildtyp-Amyloidose; nach Pernice & Hahn (2023)

Liegt eine erbliche ATTR vor und ist die ursächliche Mutation bereits identifiziert, ­empfiehlt sich ggf. eine humangenetische Beratung. Auf alle Fälle sollte wegen der Vielzahl möglicherweise (subklinisch) betroffener Organe – über das hier im Vordergrund stehende Nervensystem hinaus – der Patient in einem Schwerpunktzentrum von einem interdisziplinären Team betreut werden.

Quelle: Pernice HF, Hahn K. Innere Medizin 2023; 64: 848-854; DOI: 10.1007/s00108-023-01570-6 

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Die Endprodukte lagern sich außerhalb der Zellen als Amyloid-Transthyretin (ATTR) ab. Die Endprodukte lagern sich außerhalb der Zellen als Amyloid-Transthyretin (ATTR) ab. © Artur – stock.adobe.com
Modell eines Transthyretinmoleküls (rosa und blau) im Komplex mit Pterostilben und Dimethylsulfoxid Modell eines Transthyretinmoleküls (rosa und blau) im Komplex mit Pterostilben und Dimethylsulfoxid © Science Photo Library/Laguna Design