Multimedikation: Unbeabsichtigte Verordnungskaskaden aufdecken
Mehr als 40 % der Patienten über 65 Jahren nehmen fünf und mehr Arzneimittel ein. Dadurch drohen Interaktionen, Nebenwirkungen und sogar iatrogene Krankheiten! Wie lässt sich die Sicherheit und Qualität der Arzneitherapie gewährleisten?
Typisches Beispiel einer unkoordinierten Therapie: „Ein Kopfschmerzpatient erhält vom Hausarzt Paracetamol, vom Neurologen ein Triptan, vom Orthopäden wegen Nackenverspannungen Tetrazepam, vom Apotheker (OTC) Ibuprofen, und von der Nachbarin „weil alles nicht hilft“ Acetylsalicylsäure“. Solche Multimedikation kann unspezifische Symptome wie Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Verwirrtheit und Schwindel auslösen. Vor allem multimorbide, ältere Menschen sind dadurch gefährdet zu stürzen. Oft treten als Interaktionseffekt auch „Funktions- störungen unklarer Ursache“ auf, die Verordnungskaskade eskaliert: Wegen dieser Symptomatik werden weitere Arzneimittel verschrieben, verdeutlichten Experten in der DEGAM*-Leitlinie „Multimedikation“.
In einer repräsentativen Berliner Querschnittuntersuchung diagnostizierte man bei 88 % der über 70-Jährigen gleichzeitig mindestens fünf Erkrankungen. |
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Auch zur kumulativen Polypharmazie liegen Daten vor:
42 % der über 65-jährigen Patienten bekommen fünf oder mehr Wirkstoffe innerhalb eines Quartals verordnet. Eine andere Analyse zeigte, dass rund 58 % der Patienten über 75 Jahren, die in einem Zeitraum von drei Monaten auf einer internistischen Station aufgenommen wurden, mehr als sechs Arzneimittel einnahmen. Die jeweiligen Einzelerkrankungen werden leitliniengerecht behandelt, doch die unerwünschten Wirkungen bzw. das Zusammenspiel der Wirkstoffe, können ernsthafte Komplikationen nach sich ziehen.
Oft fehlt zudem der Überblick über den gesamten Verordnungsprozess – auch wegen unzureichender Kommunikation zwischen den Beteiligten, so die Autoren der Leitlinie. Nicht nur bei Multimorbidität, auch bei chronischen „Einzel-Erkrankungen“ schlucken Patienten evtl. fünf oder mehr verschiedene Wirkstoffe.
Als weitere Ursache für Multimedikation gelten Fehlanwendungen, wenn z.B. trotz verändertem Krankheitsbild die Medikation weiter läuft. Die Umwandlung von rezeptpflichtigen in apothekenpflichtige Präparate birgt zudem Risken unbeabsichtiger Polypharmazie. Das betreffe v.a. Triptane, Protonenpumpenhemmer und nichtsteroidale Antirheumatika, so die Experten.
Selbsttherapie mit „Anti-Aging-Präparaten“ und vermeintlich harmlosen pflanzlichen Mitteln kann ebenfalls unkalkulierbare Interaktionen auslösen. Manch ein Patient nimmt auch gleichzeitig identische Substanzen verschiedener Hersteller ein, weil Betroffene den Überblick durch wechselnde Rabattvertragsmedikationen verlieren, schreiben die Autoren der Leitlinie.
Zu berücksichtigen seien zudem die veränderte Pharmakokinetik im Alter. Alarmierend: Etwa 6,5 % aller Krankenhauseinweisungen erfolgen wegen unerwünschter Arzneimittelwirkungen. 80 % dieser Fälle sind als schwerwiegend einzustufen.
Daher rufen die DEGAM-Autoren dazu auf, die Multimedikation aufs Korn zu nehmen: Patienten müssten vor der Einnahme eines unüberschaubaren Cocktails von Wirkstoffen geschützt werden. Der gesamte Verordnungsprozess sei zu begutachten.
* Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
www.pmvforschungsgruppe.de
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