Diabetes Kongresses 2023 „Diabetes neu denken – Vielfalt und Individualität“
Während der Vorab-Pressekonferenz erklärte Kongresspräsident Prof. Dr. Matthias Blüher, Tübingen, den Hintergrund des Mottos „Diabetes neu denken – Vielfalt und Individualität“. Er führte aus, „dass durch die Entwicklungen der letzten Jahre eine individuelle Therapie von Menschen mit Diabetes leichter geworden ist, dass wir aber auch als Behandelnde gezwungen sind, über Therapieziele, Möglichkeiten und ungelöste Probleme ,neu zu denken‘“.
Er nannte außerdem die Schwerpunkte dieser 57. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft:
- Prädiabetes erkennen und therapieren – wie frühzeitig ist rechtzeitig?
- Neu entdeckt: Bewegung, Ernährung, Psychologie – die vergessenen Therapiesäulen
- Neu gedacht: Typ 1, Typ 2 und Subtypen – was heißt das für die Therapie?
- Neu gemacht: von der Forschung in die Anwendung – personalisiert therapieren und Komplikationen verhindern!
- Besser Leben mit Diabetes: welche Innovationen die Lebensqualität messbar steigern
Er mahnte, neben den medikamentösen und technologischen Möglichkeiten in der Diabetestherapie auch die „klassischen Säulen“ nicht zu vergessen und nannte Bewegungstherapie, Ernährungsweise und psychologische Unterstützung und Verhaltenstherapie.
Screening auf Typ-1-Diabetes: Chancen, Nutzen, Risiken und ethische Aspekte
Seit einigen Jahren ist es möglich, ein Erkrankungsrisiko für Typ-1-Diabetes zu identifizieren. Auch lässt sich durch das Medikament Teplizumab (in den USA zugelassen, in Europa beantragt) die Manifestation der Erkrankung verzögern. Welchen Nutzen ein Screening auf Typ-1-Diabetes haben könnte, wird während des Diabetes Kongresses diskutiert.
Prof. Dr. Andreas Neu, Tübingen, Präsident der DDG und Kinderdiabetologe führen in seinem Statement während der Vorab-Pressekonferenz aus, dass dabei auch gesundheitsökonomische und ethische Fragen zu berücksichtigen sind. „Es ist wichtig und absolut erforderlich, die Frage eines Screenings aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten“, sagt er – und stellte konkret diese Fragen in den Raum:
- Ist das Screening ausreichend treffsicher oder was passiert mit denen, die falsch positiv getestet werden und fortwährend mit der Belastung eines nicht vorhandenen Risikos leben müssen?
- Erleichtert das Wissen um ein Erkrankungsrisiko das Leben oder hängt damit ein Damoklesschwert als jahrelange Belastung über den Familien?
- Sind wir der Betreuung solcher Risikokandidaten gewachsen, wenn wir bedenken, dass bereits heute die Zahl der verfügbaren Einrichtungen und Ressourcen nicht ausreicht, um die schon Erkrankten adäquat zu versorgen?
- Ist die Verzögerung einer Manifestation ein Gewinn, wenn wir bedenken, dass wir dafür den Einsatz einer Immunintervention bei einem noch gesunden Kind in Kauf nehmen müssen?
- Die Nebenwirkungen von Insulin sind uns seit 100 Jahren bekannt. Wissen wir genug über die Langzeitwirkungen eines Eingriffes in das Immunsystem bei noch sehr jungen Kindern?
- Sind die Risiken, die mit einem Screening und der nachfolgenden Immunintervention einhergehen, gerechtfertigt bei einer gut behandelbaren Erkrankung und modernen Therapie-Optionen, die in vielen Bereichen ein nahezu normales Leben ermöglichen?
- Brauchen wir ein Screening für alle oder ist die Möglichkeit der Früherkennung eher eine hilfreiche Option in Einzelfällen?
Präzisionsmedizin in der Diabetologie – es gibt meh als „Typ 2“
Typ-2-Diabetes wird nicht mehr als einheitliches Krankheitsbild angesehen, vielmehr wurden mittlerweile fünf Subtypen identifiziert. „Die Etablierung von Subtypen des Diabetes hat zum Ziel, Menschen mit hohem Risiko für die frühe Entwicklung von Folgeerkrankungen, die besonders von präventiven Maßnahmen profitieren, nach einfachen klinischen Merkmalen zu identifizieren“, erklärt Prof. Dr. Julia Szendrödi, Ärztliche Direktorin der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie, Stoffwechselkrankheiten und Klinische Chemie des Universitätsklinikums Heidelberg.
Um diesen Betroffenen zukünftig passgenaue präventive und therapeutische Strategien vorschlagen zu können, müssten jedoch die verfügbaren Ansätze in Interventionsstudien validiert werden. Klinisch-experimentelle Studien untersuchen, welche Mechanismen für unterschiedliche Krankheitsverläufe und das frühe Auftreten von Folgeerkrankungen verantwortlich sind, um neue molekulare Ansätze zu finden. „Aktuelle Clusterversuche zur Bildung von Subtypen haben noch Schwächen hinsichtlich der Praktikabilität der Kriterien im klinischen Alltag“, erklärt Szendrödi. „Dazu zählen unter anderem die Einteilung von Patientinnen und Patienten mit bereits länger zurückliegender Diabetesdiagnose oder von unterschiedlichen Ethnizitäten, aber am meisten fehlt noch die Evidenz für therapeutische Konsequenzen aus randomisierten, subgruppenspezifischen Interventionsstudien.“
Insgesamt aber sei die Entwicklung neuer Ansätze der Präzisionsmedizin in der Behandlung des Diabetes ein vielversprechender Auftakt für eine evidenzbasierte, maßgeschneiderte medizinische Versorgung von Betroffenen, welche hohe Risiken für Diabetes-assoziierte Folgeerkrankungen aufweisen.
Ernährung bei Typ-2-Diabetes. Vergessene Therapiesäule neu entdeckt?
Un eine der Therapiesäulen, die wieder mehr in den Vordergrund rücken könnten, ging es im Statement von Prof. Dr. Diana Rubin, Chefärztin am Zentrum für Ernährungsmedizin und Diabetologie am Vivantes Klinikum Spandau und Vivantes Humboldt-Klinikum, Berlin.
Sie führte aus: „Durch die Entwicklung moderner und potenter Pharmatherapie ist die Ernährungstherapie in den letzten 50 Jahren immer mehr in den Hintergrund gerückt. Zur Medikamentenentwicklung kam hemmend hinzu, dass eine individualisierte Ernährungsberatung keine Leistung der GKV ist und vielen Ärztinnen und Ärzten die Wege dorthin nicht bekannt sind. Bisher werden Ernährungsinformationen in der Regel nach Diagnosestellung in Form von nicht individualisierten Gruppenschulungen vermittelt, dort findet sich der Einzelne jedoch nicht unbedingt wieder.“
Dabei sei die Ernährungstherapie potenziell hochpotent und besonders erfolgversprechend, wenn sie individualisiert erfolgt und häufige Kontakte zu Therapeut oder Therapeutin stattfinden. „Wir wissen, dass bei neu diagnostiziertem Diabetes eine echte Chance auf Remission durch Ernährungstherapie besteht, das heißt, man kann den Diabetes um gegebenenfalls Jahre zurückdrängen und ohne Medikamente auskommen. (…) Jede Patientin und jeder Patient soll diese Chance bekommen und entsprechend informiert und in die Therapie geleitet werden, wenn die Motivation zur Veränderung da ist – und in der Regel ist diese nach Diagnosestellung sehr hoch!“
Quelle: Vorab-Pressekonferenz Diabetes Kongress 2023 / Nicole Finkenauer