Diabetes Technologie: Im Osten nichts Neues?

diatec journal Autor: Dr. Karin Schlecht, Dr. Andreas Thomas, Prof. Dr. Lutz Heinemann

Thüringen: Unterversorgung mit Diabetestechnologie? Thüringen: Unterversorgung mit Diabetestechnologie? © SimpLine – stock.adobe.com

Gibt es Unterschiede beim Einsatz von Diabetestechnologie und digitalen Tools zwischen Ost- und West-Deutschland? Unsere Autoren haben einen detaillierten Blick auf Zahlen aus Thüringen geworfen. 

Im diatec-Journal 4/2022 wurde von Prof. Lutz Heinemann und Dr. Cornelia Woitek auf mögliche Unterschiede beim Einsatz von Diabetestechnologie (DT) in den alten und neuen Bundesländern eingegangen [1]. Grundlage dafür bildete die jährliche Befragung von Diabetologen für den D.U.T.-Report [2]. Nach diesem Report wurden Unterschiede zwischen dem Westen und dem Osten der Republik beim Einsatz von DT spekuliert: deren Einsatz ist in den alten Bundesländern stärker als in den neuen. Basierend auf diesen Daten, stehen die fünf neuen Bundesländer geschlossen am Ende, flankiert von Hamburg und dem Saarland. Als Beleg dazu diente u.a. die Korrelation der antwortenden Diabetologen mit deren Organisiertheit im Bundesverband der niedergelassenen Diabetologen (BVND) und der Teilnahme am jährlich im Januar stattfindenden diatec-Kongress.

Dies heißt, der Grad der Organisiertheit und des nachweislichen Interesses an einer wichtigen Technologieveranstaltung dienten als Indikator für den Einsatz der DT. Inwieweit das zutrifft wurde schon in dem Artikel kontrovers diskutiert, z.B., dass die Zahlen nur eine kleine Stichprobe darstellen und dass man Daten bezüglich der Mitgliedschaft im BVND und der Teilnahme am diatec-Kongress auf die Gesamtzahl der in dem jeweiligen Bundesland tätigen Diabetologen normieren müsste. Es steht also die Frage im Raum, ob man aus dem D.U.T.-Report auf konkrete Versorgungslücken mit DT in Thüringen schließen kann. 

Dieser Bericht hat aber dazu motiviert, die Fakten nochmals konkret für das Bundesland Thüringen zusammenzutragen und eine Zustandsbeschreibung für den Einsatz von DT (CGM, Insulinpumpen und AID-Systeme) und Digitalisierungsinstrumenten wie Daten­management-Sofortware, App und DiGA (digitale Gesundheitsanwendungen) vorzunehmen. 

Zustandsbeschreibung im Freistaat Thüringen

Bezüglich der Anzahl der Diabetespatienten in Thüringen soll die Orientierung an den Bundeszahlen erfolgen, wohl wissend, dass es regionale Unterschiede gibt. Von den 2,12 Millionen Einwohnern im Freistaat ist folglich bei ca. 219.000 ein Diabetes mellitus bekannt (bei ca. 11.000 ein Typ-1-Diabetes und bei 208.000 ein Typ-2-Diabetes – von Letzteren werden ca. 38.000, rund 18 %, mit Insulin behandelt) [3]. 

In Thüringen gibt es aktuell 66 Dia­betologische Schwerpunktpraxen (DSP) bzw. -zentren [3]. Von diesen behandeln sechs ausschließlich Patienten mit Typ-2-Diabetes, sieben Zentren behandeln nur Kinder und Jugendliche. Die anderen 53 DSP behandeln sowohl Betroffene mit Typ-1- als auch mit Typ-2-Diabetes. Laut Landesärztekammer gibt es aktuell 89 tätige Diabetologen. Es existiert ein regionaler Verband, der VNDT (Verband der niedergelassenen Diabetologen Thüringen). Das ist auch der Grund, warum nur vier Dia­betologen im BVND organisiert sind. In diesem Sinne ist die Korrelation von Antworten im D.U.T.-Report und der Organisiertheit im BVND nicht stichhaltig. 

Angenommen die Patienten mit Typ-1-Diabetes werden überwiegend in den DSP betreut, dazu noch ca. 20 % der Patienten mit Typ-2-Diabetes, dann kommen auf jede der 53 Praxen mit Typ-1-Behandlung 188 Typ-1-Dia­betesfälle und auf jede der 59 DSP 705 Typ-2-Diabetesfälle. Hinzu kommen 142 pädiatrische Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1, behandelt bei den Kinderdiabetologen. Auch wenn das Durchschnittszahlen sind, so ergibt sich damit ein gut geschätzter Zusammenhang zwischen Patienten- und Praxisdaten. 

Schätzung des DT-Einsatzes in Thüringen

Leider gibt es exakte Zahlen nur von 14 DSP. Diese stellen gewissermaßen eine Stichprobe dar und sollen auf die Gesamtheit der 59 DSP hochgerechnet werden. Daraus ergibt sich, dass 16.756 CGM-Systeme, 1.416 Insulinpumpen (nicht AID) und 944 AID-Systeme im Einsatz sind. Damit haben in Thüringen 21,45 % der Patienten mit Typ-1-Diabetes eine Insulinpumpe (mit und ohne Einsatz im AID). Unter der Annahme, dass nur Patienten mit Typ-1- und insulinbehandeltem Typ-2-Diabetes ein CGM erhalten, liegt der Anteil an CGM-Systemen in dieser Personengruppe bei 34 %.

Bedeuten diese Zahlen eine „Unterversorgung“? Die verordneten Systeme auf die DSP umgerechnet bedeutet dies, dass pro Praxis 284 Diabetespatienten mit CGM, 24 mit einer Insulinpumpe (ohne AID) und 16 mit einem AID versorgt sind. Zur Einschätzung dieser Versorgungsgröße sei der D.U.T.-Report von 2022 bemüht, auch wenn dort Daten von nur 305 Ärzten vorlagen, es sich gewissermaßen also um eine positive Stichprobe von engagierten Diabetologen handelt. In diesem Report wird berichtet, dass pro Diabeteszentrum 495 CGM-Anwender, 102 Pumpenträger (ohne AID) und 19 AID-Anwender existieren.

Im Vergleich zum D.U.T.-Report sind also die Diabetespatienten in den DSP in Thüringen deutlich unterversorgt: 57 % beim CGM, 23 % bei Insulinpumpen, 84 % bei AID. Betrachten wir die Versorgungszahlen der AOK Plus für Thüringen (51,8 % aller Versicherten) von 2021, so sind ähnliche Korrelationen zu ziehen. Von den Versicherten mit Insulin bei Typ-1- und Typ-2-Diabetes sind 26,5 % mit CGM versorgt. In Bezug auf die Insulinpumpentherapie (inklusive AID), die fast ausschließlich Patienten mit Typ-1-Diabetes durchführen, nutzen 25,9 % der Versicherten diese Technologie [4].

Mögliche Ursachen der vermuteten Unterversorgung

Anhand der vorliegenden Zahlen muss die Unterversorgung mit DT im Freistaat Thüringen als Schätzung deklariert werden. Es gibt aber eine Reihe Faktoren, welche diese Feststellung unterstützen.

Ein wesentlicher Fakt ist die Altersstruktur der Bevölkerung. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes [5] ist die Bevölkerung im Osten Deutschlands und speziell auch in Thüringen älter als in den alten Bundesländern (Abb. 1). Die meisten Thüringer Landkreise haben einen Anteil von Menschen im Alter > 65 Jahren von 29–34 % (z.B. im Großraum München sind es dagegen 10–15 %). Auch wenn es nicht für jeden älteren Menschen zutrifft: im Durchschnitt ergibt sich daraus eine geringere Affinität zu modernen Technologien. Das führt zu einem geringeren Verlangen nach DT und deren Einsatz. 

Neben der DT betrifft das auch die Nutzung von Smartphones über dessen Funktion als Telefon hinaus. Ein indirekter Beleg dafür ist die Nutzung des mobilen Internets. Diese liegt bei Menschen zwischen 26–40 Jahren bei 96 %, in der Altersgruppe von 66–75 Jahren noch bei 63 % und in der Altersgruppe darüber nur bei 36 % (Abb. 2) [6]. Beides, die Nutzung erweiterter Smartphone-Funktionen und des Internets sind aber häufig die Voraussetzung für die Nutzung moderner DT. 
Weniger Unterschiede zwischen Ost und West gibt es bezüglich der Arztdichte [7]. Die geringere Bevölkerungsdichte in den östlichen Bundesländern korreliert mit der Anzahl der Ärzte. 

Schließlich kann auch die Deprivation in den einzelnen Regionen eine Rolle spielen. Diese gilt als Maß für die von der durchschnittlichen Bevölkerung empfundenen Entbehrungen bzw. das Gefühl der Benachteiligung. In einem Bericht des Wissenschaftlichen Institutes der AOK wird diese sozioökonomische Situation in fünf Deprivationskategorien eingeteilt. Nahezu durchgängig weisen die neuen Bundesländer die beiden höchsten, also schlechtesten Quintile auf und liegen damit zum Teil deutlich über den alten Bundesländern (Abb. 3) [8]. Das ist vermutlich auch einer höheren Krankheitslast geschuldet.

Weiterhin wird die höhere Deprivation auch Auswirkungen auf die Verfügbarkeit der privaten Kommunikationstechnik haben und damit auf das Zusammenwirken mit DT. Möglicherweise sind Smartphones, die für einen geringen Preis im Rahmen eines abgeschlossenen Telekommunikationsvertrags an den Nutzer abgegeben werden, nicht immer kompatibel mit moderner DT. Aktuell gibt es z.B. Schwierigkeiten mit der Konnektivität von verschiedenen preiswerteren Smartphones auf Basis des Android-Betriebssystems mit CGM-Systemen. Derartige Probleme sind mit dem iOS-Betriebssystem der meist preisintensiveren iPhone-Geräte nicht bekannt.

Schlussfolgerungen

Unterschiede in der geringeren Verbreitung moderner Diabetestechnologie in Thüringen vergleichsweise zu Regionen im Westen Deutschlands lassen sich vermuten. Die Datenlage dafür ist aber schwach. Beliebige Aussagen basieren auf Schätzungen. Deshalb ist der Vergleich Ost vs. West wenig sinnvoll, solange die Datengrundlage dafür nicht substanzieller wird. Richtig ableitbar wären die Zahlen sowieso nur über Angaben aller Hersteller über die gelieferten Produkte oder ein entsprechendes Register. Vermutlich stimmt aber die Grundaussage. Ein höherer Altersdurchschnitt der Patienten, die größere sozioökonomische Deprivation in der Bevölkerung und die mit beiden Faktoren verbundene geringere Nutzung moderner Technologien könnten dafür entscheidend sein.

Ein weiteres Fazit lässt sich trotzdem ziehen: Diabetestechnologie und Digitalisierung sind nicht nur eine entscheidende Säule in der Diabetestherapie, sondern in ihrer Entwicklungsdynamik nicht mit anderen Therapieformen zu vergleichen. Wer sich ihr verschließt, läuft Gefahr, abgehängt zu werden.

Literatur:

  1. Heinemann L, Woitek C. Unterschiede zwischen Ost und West beim Einsatz von Diabetestechnologie Befragungen zeigen ein Gefälle in Deutschland. diatec journal. 6. Jahrgang, Nr. 4, Dezember 2022: 10-11
  2. D.U.T.-Report: Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes 2022. Digitalisierungsreport 2022 – D.U.T-Report (dut-report.de); letzter Abruf: 24.05.2023
  3. Gesundheitsbericht 2023; DDG-Homepage; DiabetesDE; statist. Bundesamt; Thüringer Landesamt f. Statistik
  4. AOK PLUS – Die Gesundheitskasse für Sachsen und Thüringen: Strukturdaten: https://www.aok.de/pk/magazin/cms/fileadmin/pk/plus/pdf/strukturdaten-langversion-aokplus.pdf; letzter Abruf: 24.05.2023
  5. Statistisches Bundesamt. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 2022. https://www.bib.bund.de/DE/Fakten/Fakt/B67-Altenquotient-Kreise.html; letzter Abruf: 24.05.2023
  6. D21-Digital-Index 2022/2023, https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/d21-digital-index-20222; letzter Abruf: 24.05.2023
  7. Statistische Informationen aus dem Bundesarztregister, KBV
  8. Gesundheitsatlas Deutschland: Diabetes mellitus Typ 2: Verbreitung in der Bevölkerung Deutschlands und seinen Regionen. Ursachen, Folgen und Präventionsmöglichkeiten. WIdo – Bericht des Wissenschaftlichen Institutes der AOK, Berlin 2019: Karte 6, Seite 5