Cancer Survivors Erwachsenen fehlt es an ganzheitlichen Unterstützungsangeboten
Herr Prof. Arndt, immer mehr Patient:innen überleben ihre Krebserkrankung und leiden teilweise unter Spät- und Langzeitfolgen. Wie sind diese definiert und welche kommen besonders häufig vor?
Prof. Dr. Volker Arndt: Langzeitfolgen beginnen gemäß einschlägiger Definition während der Akuttherapie und können jahrelang andauern. Spätfolgen hingegen treten erst Monate oder auch noch viele Jahre nach Ende der Behandlung auf. Typische Langzeitnebenwirkungen und Spätfolgen von Tumortherapien umfassen kardiovaskuläre Erkrankungen, Sekundärmalignome, Polyneuropathien, Infertilität, Erschöpfung und Fatigue, Depressionen, Rezidiv- und Progredienzängste und wachsende berufliche sowie finanzielle und soziale Probleme.
Welche Bedürfnisse haben erwachsene Langzeitüberlebende und welche Anlaufstellen gibt es?
Prof. Arndt: Die Cancer Survivors haben generellen Bedarf an Versorgungsangeboten, die zum einen ganzheitlich die verschiedenen Langzeit- und Spätfolgen adressieren und zum anderen präventiv wirken. Unter Expert:innen besteht ein hoher Konsens darüber, dass das deutsche Versorgungssystem für Langzeitüberlebende bislang keine adäquat strukturierten und ganzheitlichen Angebote systematisch vorhält und daher ein deutlicher Handlungsbedarf zur Verbesserung der Versorgungsangebote besteht.
Derzeit gibt es zahlreiche Angebote, die die genannten Belastungen jeweils separat in Teilen adressieren: zum Beispiel psychosoziale Krebsberatungsstellen, Rehabilitationsmaßnahmen, eine psychoonkologische Betreuung, Physio- oder Ergotherapie etc. Diese sind – über die Versorgungssektoren verteilt – in unterschiedlichen Settings und unter verschiedenen Rahmenbedingungen nebeneinander bzw. unvernetzt verfügbar. Darüber hinaus spielen in der Versorgung von Langzeitüberlebenden auch Selbsthilfegruppen, Patientenverbände sowie telefonische und digitale Informations- und Beratungsangebote, wie z.B. der Krebsinformationsdienst des DKFZ und das Junge Krebsportal, eine wichtige Rolle.
An was fehlt es den Betroffenen?
Prof. Arndt: Trotz der bereits vielfältigen Versorgungpalette ist es notwendig, spezifische und zugleich ganzheitlich ausgerichtete Angebote (Survivorship-Care-Programme) zu entwickeln. Dies stellte auch die Arbeitsgruppe „Langzeitüberleben nach Krebs“ im Nationalen Krebsplan fest und zwischenzeitlich wurden erste Ausschreibungen auf den Weg gebracht. Bei der Entwicklung von Survivorship-Care-Programmen müssen unterschiedliche und zum Teil sehr spezifische Bedarfe berücksichtigt werden. So ist davon auszugehen, dass die Bedürfnisse nach einer Krebserkrankung im Kindes-, Jugend- und jungen Erwachsenenalter sich deutlich von denjenigen im mittleren Lebensalter – mit Fokus auf beispielsweise Fragen der Erwerbstätigkeit – und von denen Betroffener im höheren Lebensalter – mit Fokus auf Komorbiditäten und altersbedingte Einschränkungen – unterscheiden. Auch ändern sich die Belastungen und Bedarfe im Verlauf von Behandlung und Nachsorge.
Es fehlt bislang eine systematische Erfassung der Situation und Bedürfnisse der Langzeitüberlebenden, die eine bedarfsgerechte Versorgung und eine gezielte Inanspruchnahme spezifischer Angebote ermöglichen könnte. Zudem werden die bereits vorhandenen Angebote weder strukturiert noch in irgendeiner Form systematisiert zur Verfügung gestellt. Es hängt also bislang von einzelnen Behandelnden und den Patient:innen ab, ob spezifische Versorgungsangebote bekannt sind und in Anspruch genommen werden.
Welche Herausforderungen gibt es bei der Betreuung der Langzeitüberlebenden?
Prof. Arndt: Die Betreuung ist durch die Vielzahl der involvierten Behandler erschwert. Hier spricht man von einer „Lost in Transition“-Problematik, d.h. Betroffene beklagen Schwierigkeiten, ihre Ansprechpartner:innen nach Abschluss der regulären Nachsorgephase zu benennen. Gleichzeitig verlieren die Akutbehandler den Kontakt zu den Patient:innen und erhalten keine Informationen zum weiteren Verlauf.
Die Ursachen für die „Lost in Transition“-Problematik liegen in einer fehlenden qualifizierten, strukturierten und alle Aspekte berücksichtigenden Langzeitnachsorge, in einer unzureichenden Information der Betroffenen über das Risiko für Langzeit- und Spätfolgen sowie in Wohnortwechseln. Bei Langzeitüberlebenden einer Krebserkrankung im Kindes- oder Jugendalter sollten Nachsorgepässe daher spätestens zum Zeitpunkt der Transition von der Pädiatrie in die Erwachsenenmedizin zur Verfügung stehen. Die Nachsorgepässe sollten auch die Informationen zur Tumordiagnose und -therapie, einschließlich deren Komplikationen, sowie die ggf. bestehenden Komorbiditäten des Erkrankten zusammenfassen.
Sind solche Nachsorgepässe auch für Erwachsene sinnvoll?
Prof. Arndt: Definitiv. Der aktuelle Europäische Krebsplan sieht vor, dass im Rahmen der Initiative „Besseres Leben für Krebskranke“ ein elektronischer Pass für Personen mit/nach einer Krebserkrankung bereitgestellt werden soll. Dieser personalisierte, freiwillige Pass in Form einer interoperablen portablen elektronischen Chipkarte oder App soll die Patient:innen mit Fachkräften im Gesundheitswesen in Kontakt bringen, um eine bessere Kommunikation und Koordinierung im Hinblick auf die medizinische Nachsorge zu gewährleisten. Ergänzt werden soll der Pass durch das virtuelle „Europäische digitale Zentrum für Krebskranke“ im Rahmen der von „Horizon Europe“ geplanten Mission „Krebs“. So soll ein standardisierter Ansatz für den freiwilligen Austausch von Patient:innendaten und die Überwachung des Gesundheitszustands von Überlebenden aufgebaut werden.
Gibt es weiteren Verbesserungs- und Forschungsbedarf?
Prof. Arndt: In den bestehenden Krebsregistern in Deutschland gibt es bislang keine strukturierte Erfassung der Verläufe im Hinblick auf mögliche Langzeit- und Spätfolgen jenseits von Vitalstatus, Zweittumor und Progression bzw. Rezidiv. Auch fehlen Angaben zur Inanspruchnahme von onkologischen Rehabilitationsleistungen/Anschlussheilbehandlungen sowie zur Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit nach Krebs bei zuvor berufstätigen Patient:innen. Nur ein Drittel der Betroffenen nimmt die onkologische Rehabilitation in Anspruch, und zu den Maßnahmen liegen kaum Langzeitergebnisse vor.
Zudem werden Daten verschiedener Quellen – z.B. Krebsregister, Kranken- und Rentenversicherung, Krankenhausdiagnose- oder DRG-Statistik – nicht zusammengeführt. Die Gründe sind heterogene datenschutzrechtliche Vorgaben, fortbestehende Partikularinteressen der Datenhalter und fehlende Interoperabilität. Es müssen gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, um die Daten zu verknüpfen – idealerweise, ohne dass eine explizite Einwilligung der Betroffenen erforderlich ist, solange man deren Re-Identifizierbarkeit ausschließen kann.
Auch für die Leistungserbringer wären Informationen zum Langzeitverlauf ein wichtiger Bestandteil der Qualitätssicherung, z.B. im Hinblick auf die Beratung bezüglich des zu erwartenden Risikos und der möglichen Prävention von Langzeit- und Spätfolgen sowie der Optimierung der etablierten Therapieregimes. Außerdem müssen Patient:innen identifiziert werden, die einer intensiveren und längerfristigen Nachsorge bedürfen. Angebote, die mit der Gießkanne verteilt werden, sind nicht stemmbar und würden zu einer Überversorgung führen. Denn die Mehrheit der Cancer Survivor sagt, dass es ihnen gut geht.
Ich bin aber auch gespannt, wie sich die multimodale Prähabilitation, also die frühzeitige Implementation multimodaler Ansätze, weiterentwickelt. Diese ist noch relativ wenig erforscht, aber scheint sehr vielversprechend zu sein.
Welche ökonomischen Aspekte müssen in der Gruppe der Erwachsenen bedacht werden?
Prof. Arndt: Die Kosten für Krebsbehandlungen sind in den vergangenen Jahren stetig gestiegen, und selbst in Ländern mit öffentlich finanzierter Gesundheitsversorgung fällt ein Teil dieser Last auf die Patient:innen und ihre Familien zurück. Außerdem sind Betroffene oft nicht in der Lage, ihre volle Erwerbstätigkeit aufrechtzuerhalten. Auch pflegende Angehörige können in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sein, was die finanzielle Belastung für die Familie weiter erhöht. Darüber hinaus ist die Kostenbeteiligung für Krankenversicherte durch höhere Prämien, Selbstbeteiligungen, Zuzahlungen, Mitversicherungen und andere nicht erstattungsfähige Ausgaben gestiegen.
Das umfangreiche deutsche Gesundheits- und Sozialversicherungssystem trägt einen großen Teil der Kosten, die den Patient:innen für die Krebsbehandlung entstehen. Zudem beinhaltet es gewisse Kompensationsleistungen im Fall von Einkommensverlusten. In der Regel werden diese aber nur teilweise ausgeglichen oder sichern lediglich ein Existenzminimum.
Gibt es genaue Zahlen zu den finanziellen Belastungen?
Prof. Arndt: Ungefähr ein Drittel bis die Hälfte der Betroffenen kehrt nicht mehr an ihren Arbeitsplatz zurück und es kommt zu finanziellen Problemen. Obwohl die monatlichen Zuzahlungen bei 77 % der Betroffenen 200 Euro nicht übersteigen, geben über 40 % der Patient:innen, die über einen Verlust von Haushaltsnettoeinkommen berichten, diesen Betrag mit mindestens 800 Euro pro Monat an. 24 % der Patient:innen mit Einkommensverlusten berichten, dass diese mehr als 1.200 Euro pro Monat betragen.
Nach einer aktuellen Auswertung anhand der Daten des sogenannten „Sozioökonomischen Panels“ durch unsere Kolleg:innen aus der Gesundheitsökonomie am DKFZ sank das mittlere Arbeitseinkommen innerhalb des Jahres, in dem die Krebsdiagnose gestellt wurde, um ein Drittel. Der Rückgang war auch noch vier Jahre danach zu beobachten. Eine Tumorerkrankung war zudem mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Arbeitslosigkeit und einer deutlichen Reduktion der geleisteten Arbeitsstunden verbunden. Im Gegensatz dazu veränderte sich bei Rentner:innen das Rentenniveau durch eine Krebsdiagnose nicht.
Welche Forschung verfolgen Sie in Ihrer Arbeitsgruppe am DKFZ?
Prof. Arndt: Unser Team gehört in Deutschland zu den wenigen, das auch die Langzeit-Lebensqualität betrachtet – also zu einem Zeitpunkt, wenn die Patient:innen nicht mehr zur Nachsorge kommen und eigentlich gar nicht richtig klar ist, wer zuständig ist. Da gilt es, etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Man muss dann nicht nur auf die körperlichen Aspekte schauen, sondern auch auf die psychosozialen, die eine mindestens ebenso große Rolle spielen.
Wir beobachten aber nicht nur, sondern setzen uns auch mit den Leistungserbringern zusammen, um konkrete Programme zu entwickeln, die den Patient:innen helfen. Außerdem beschäftigen wir uns damit, neue Technologien einzusetzen: Zum Beispiel könnten „Wearables“ zukünftig den Grad der körperlichen Aktivität und andere „digitale Biomarker“ erfassen und damit auch Rückschlüsse auf das Wohlbefinden zulassen. Hier gilt es, neue Wege zu gehen, um eine bessere Datengrundlage zu schaffen und dadurch den Betroffenen noch gezielter helfen zu können.
Interview: Dr. Miriam Sonnet
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