Chronische Schmerzen in der Pädiatrie „Es geht um Gedanken, Verhalten und Gefühle“
Chronischer Schmerz ist eine eigenständige Erkrankung. Man geht davon aus, dass unabhängig von einem nozizeptiven Reiz Schmerzen empfunden werden, weil eine Änderung in der Reizweiterleitung und -verarbeitung stattgefunden hat. Der chronischen Schmerzstörung geht im Gegensatz zur anhaltenden somatoformen Schmerzstörung durchaus ein physiologischer Prozess voraus (z. B. eine Entzündung), erklärte Prof. Dr. Boris Zernikow, Vestische Kinder- und Jugendklinik Datteln.
Betroffene Kinder und Jugendliche klagen vorwiegend über Schmerzen an Kopf, Bauch und Bewegungsapparat. Nicht selten wechselt die Lokalisation oder die Beschwerden treten an verschiedenen Stellen gleichzeitig auf. Anamnestisch helfen spezielle Fragebögen für verschiedene Altersklassen und für Eltern weiter (siehe Kasten).
Spezielle Fragebogen für die Anamnese
Für die Anamnese reicht die Schmerzintensität nicht aus. „Die ist sogar vollkommen egal“, meinte Prof. Zernikow. Andere Faktoren sind wichtiger, aber komplex zu erheben. Deswegen wurde der „deutsche Schmerzfragebogen für Kinder und Jugendliche“ entwickelt, den es für verschiedene Altersklassen und als Erst- sowie als Verlaufsbogen gibt.
Verfügbar unter: bit.ly/SchmerzenKinder
Sehr wichtig für den Verlauf der Erkrankung sind psychosoziale Faktoren. Aus Erfahrung weiß Prof. Zernikow, dass zu den häufigsten Auslösern Stress und negative Gefühle zählen. Fragebogen-Screenings ergeben bei vielen Kindern und Jugendlichen erhöhte Angst- und Depressionswerte, wobei nicht zwangsläufig eine psychische Erkrankung vorliegen muss. Als häufige Komorbidität nannte der Pädiater soziale Phobien. Während der Coronapandemie habe sich beispielsweise gezeigt, dass es vielen jungen Schmerzpatientinnen und -patienten deutlich besser ging, weil sie nicht in die Schule mussten. Nach der Rückkehr in die Schule seien dann oft auch die Schmerzen wiedergekommen.
Das Wichtigste bei der Behandlung chronischer Schmerzen ist laut Prof. Zernikow die Edukation – zumal Betroffene, deren Eltern sowie zuweisende Ärztinnen und Ärzte oft eine „somatische Fixierung“ hätten. Um das biopsychosoziale Schmerzverständnis zu vermitteln, eignen sich digitale Medien (siehe Kasten). Die Erklärvideos nutzen Metaphern und Bilder, um die Zusammenhänge zu erläutern, z. B. wird die Konnektivität im Gehirn von einem Trampelpfad zu einer dreispurigen Autobahn ausgebaut.
Chronischer Schmerz ist nach Ansicht des Kollegen eine der wenigen Erkrankungen, die man heilen kann, indem man darüber redet. Nur ein kleiner Teil der Betroffenen brauche eine spezielle Therapie, wie sie das Team um Prof. Zernikow anbietet. Diese sei nötig, wenn nach drei Monaten keine Besserung auftritt. In diesen Fällen eignet sich eine interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie (IMST), deren Fokus sich in Richtung psychosoziale Interventionen verschiebt. „Es geht um Gedanken, Verhalten und Gefühle“, erklärte der Schmerzspezialist. In Datteln umfasst die dreiwöchige Behandlung u. a. Edukation, das Trainieren von Schmerzbewältigungsstrategien, Therapie relevanter Probleme in Schule, mit Freunden und/oder Familie sowie Vermittlung angemessenen Elternverhaltens und Familientherapie. Pharmakologisch wird nur selten behandelt, optional erhalten die Kinder und Jugendlichen eine Physiotherapie.
Erklärvideos und weitere Materialien zur Edukation
- Auf der Homepage des Deutschen Kinderschmerzzentrums findet sich ein Film, der in leichter Sprache den Unterschied zwischen akuten und chronischen Schmerzen erklärt. Darüber hinaus gibt es ein wissenschaftliches Begleitheft für medizinisches Personal: bit.ly/Schmerzedukation
- Webseite für Betroffene mit Kopfschmerzen: meine-kopfsache.com
- Website für Betroffene mit Bauchschmerzen: meine-bauchstelle.com
- Buch für die Eltern Betroffener: „Rote Karte für den Schmerz“; ISBN 978-3-8497-0130-7
Verschiedene klinische Studien haben gezeigt, dass solche interdisziplinären multimodalen Schmerztherapien den Zustand der Betroffenen (darunter Schmerzintensität, Funktionalität und Schulfehltage) dauerhaft verbessern können. Die Wirkung lässt sich weiter steigern, wenn auf die IMST eine sozialmedizinische Nachsorge folgt.
Eine Langzeituntersuchung ergab, dass von den 162 jungen Patientinnen und Patienten sieben Jahre nach IMST 58 % keine und 14 % nur leichte chronische Schmerzen hatten. Trotzdem wiesen sie im Vergleich zur Normalbevölkerung eine höhere psychische Beeinträchtigung auf. Hierzu nannte Prof. Zernikow zwei Thesen: „Entweder hat die Schmerzerkrankung dafür gesorgt oder es sind Kinder, die vorher schon sensibler waren, und die Schmerzerkrankung war nur Ausdruck ihrer psychischen Sensibilität.“
Quelle: 49. Jahrestagung der Gesellschaft für Neuropädiatrie