Kultursensitive Versorgung von Migranten ist noch lange nicht Standard
Seit 2018 wird die Studie ToP durchgeführt, wobei die Abkürzung für „Teilhabe durch soziokulturelle Öffnung? (Post-)migrantische Fachkräfte und Patient*innen im institutionellen Wandel am Beispiel von Medizin und Pflege“ steht. Teilgenommen haben bislang 835 Ärzte und Pflegekräfte aus zwei Einrichtungen, berichtete Professor Dr. Meryiam Schouler-Ocak von der Psychiatrischen Klinik der Charité – Universitätsmedizin Berlin im St. Hedwig-Krankenhaus.
Defizite in der Aus- und Weiterbildung
Interkulturelle Kompetenz hielten 92,5 % der Befragten für sehr relevant oder wichtig. Allerdings gaben 72 % von ihnen an, ihre Aus- und Fortbildung habe sie in diesem Punkt nur unzureichend oder schlecht vorbereitet.
Dies lag allerdings nicht an mangelndem Interesse. Jeder zweite Teilnehmer gab an, gerne an Trainingskursen zu interkulturellen Themen teilnehmen zu wollen. Jeweils etwa drei Viertel interessierten sich für die interkulturelle Kommunikation im Kontext der Tätigkeit als Arzt oder Pflegekraft, für kulturspezifische Konzepte und Vorstellungen über Gesundheit, Tod und Trauer sowie die interkulturelle Konfliktlösung.
Um besser für die Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund gerüstet zu sein, nannten die Befragten als besonders wichtig:
- vielsprachige Informationsmaterialen,
- Einführung zusätzlicher interkultureller Dienste wie Begleit- und Übersetzungsservice und
- mehr Beschäftigte speziell für die kultursensible Pflege und medizinische Versorgung.
Eine besondere Herausforderung für die kultursensible psychiatrische Versorgung sind gewaltsam Vertriebene. Professor Dr. Levent Küey von der Universität in Istanbul plädierte dafür, diese nicht in spezialisierten Einrichtungen, sondern integriert im allgemeinen Gesundheitssystem zu versorgen. Geschehe dies nicht, befürchtet der frühere Vorsitzende der Arbeitsgruppe der European Psychiatric Association zu Bedürfnissen von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Europa eine noch stärkere Ausgrenzung, Marginalisierung und Stigmatisierung, was die Integration weiter erschwere. Die Integration umfasse nicht nur Wohnung, Arbeit, Bildung und Kultur, sondern eben auch Gesundheit, betonte er.
Natürlich hätten die gewaltsam Vertriebenen aufgrund von Kriegserfahrungen, sprachlichen sowie kulturellen Barrieren und der hohen Prävalenz von komplexen Traumata und assoziierten psychischen Störungen besondere Bedürfnisse. Dem könne aber auch innerhalb des Systems durch eine entsprechende Schulung des Personals begegnet werden. Davon ist der Kollege überzeugt. Er schlug vor, spezialisierte Teams innerhalb der Einrichtungen zu bilden, die eine spezielle Expertise in der Traumabewältigung haben und zu denen auch Übersetzer gehören sollten. Ergänzend könnte ein eigenes Überweisungssystem für die Flüchtlinge etabliert werden. Die WHO empfiehlt zudem, Angehörige von Gesundheitsberufen unter den Flüchtlingen und Asylsuchenden fortzubilden und in die Gesundheitsversorgung des aufnehmenden Landes zu integrieren.
Adäquate Versorgung als Chance sehen
Am Ende ist die psychiatrische Versorgung von Flüchtlingen und Asylsuchenden nicht nur eine Herausforderung, der mit pragmatischen Lösungen begegnet werden muss. Sie ist auch eine Chance, ein stärker multikulturelles Milieu in der Gesellschaft, unter den Flüchtlingen und in der Gesundheitsversorgung zu schaffen. Prof. Küey sieht in einem kultursensibleren Gesundheitssystem einen wichtigen Baustein für das Zusammenleben in einer diversen Gesellschaft.
Quelle: 28th European Congress of Psychiatry*
* Online Veranstaltung