Laufende Sprechstunde soll Lust auf Bewegung machen
Thomas Gundlach hat einen Termin in seiner Diabetespraxis. Dafür hat der 58-jährige Busfahrer, seit 17 Jahren Typ-2-Diabetespatient und seit einigen Monaten insulinpflichtig, ein Muskelshirt, Turnschuhe und eine Sporthose angezogen. Für seinen Aufzug gibt es einen guten Grund: Wenn sein Diabetologe Hauke Groth ihn ins Sprechzimmer aufruft, dann bietet er ihm keinen Sitzplatz an. „Na, wollen Sie heute wieder auf’s Laufband?“, fragt der Arzt ihn stattdessen. Ja, Thomas Gundlach will sich lieber bewegen als sitzen, wenn er mit seinem Arzt am Bildschirm die von seinem Glukosesensor gesammelten Daten analysiert und über seine aktuellen Blutzuckerkurven und Insulindosen spricht.
Keine Geräusche, kein Kabel, kein Display
Das Laufband in Groths Sprechzimmer ist eigentlich ein Geharbeitsplatz und erinnert nur entfernt an Modelle, wie man sie aus Fitnessstudios kennt. Keine Geräusche, keine Kabel, kein Display, keine voreinstellbaren Geschwindigkeiten. Gundlach steigt auf das ergonomisch geformte Gerät. Wie schnell sich das Laufband bewegt, kann er mit der Kraft seiner Schritte selbst steuern. „Beim ersten Mal habe ich geschwitzt wie ein Bulle“, lacht Gundlach, „seither komme ich lieber im T-Shirt in die Sprechstunde.“ Gut zehn Minuten dauert sein Routine-Termin in der Diabetespraxis. Natürlich reichen diese zehn Minuten moderates Gehen nicht aus, um die vielen Stunden auszugleichen, die der Busfahrer in seinem Arbeitsalltag im Sitzen verbringt. Doch es bleibt ja nicht bei den Schritten auf dem Laufband. Vielmehr ist die „laufende Sprechstunde“ für Groth ein idealer Aufhänger, seine Patienten zu einem körperlich aktiveren Alltag zu motivieren.
Der 40-jährige Diabetologe hat im Januar 2018 die hausärztliche Praxis seines Vaters in dritter Generation in Rellingen übernommen. Er möchte sich vorrangig auf die Behandlung von Menschen mit Diabetes konzentrieren. Die Anleitung zu mehr körperlicher Aktivität sieht er dabei als einen entscheidenden Therapiebaustein. „Viele meiner Patienten haben große Scheu vor Sport und Bewegung“, erzählt er.
Die 79-jährige Typ-1-Diabetespatientin Ilse Hübner etwa hat seit einer Rückenoperation infolge eines Sturzes große Angst, erneut das Gleichgewicht zu verlieren und hinzufallen. Deshalb mied sie lange Zeit körperliche Aktivitäten. In der Sprechstunde – unter ärztlicher Aufsicht – war sie allerdings bereit, es mit dem Gehen auf dem Laufband zu probieren: „Man wird ein bisschen pustig“, berichtet sie, „und ich musste mich erst daran gewöhnen, Schritte und Sprechen zu koordinieren. Doch ich finde das gut.“ Inzwischen ist Hübner mutiger geworden und geht zum Krafttraining in die Rehasport-Gruppe.
Motivation, sich besser um den eigenen Körper zu kümmern
Auch ein weiterer Patient, ebenfalls Busfahrer, war lange ein Bewegungsmuffel. Bei ihm wurde erst vor einigen Monaten ein Typ-2-Diabetes diagnostiziert. Er arbeitet im Schichtdienst, die wechselnden Arbeitszeiten und das lange Sitzen sind ermüdend: „Danach will ich nur noch auf die Couch.“ Mehr als 100 Meter Gehstrecke kommen an einem normalen Arbeitstag nicht zusammen, schätzt er. „Im Vergleich zu meinen Kollegen bin ich noch schlank“, erzählt der 56-Jährige, der seit seiner Diagnose auch dank einer Ernährungsumstellung immerhin schon von 115 auf 109 Kilogramm abgespeckt hat.
Das Laufband in Groths Sprechzimmer war für den Busfahrer keine Liebe auf den ersten Blick. „Beim ersten Mal dachte ich, was ist das denn für ein Quatsch!“, gibt er zu. Doch er merkte rasch, dass die Bewegung seinen Zuckerwerten guttut. Meist zeigt sein Blutzuckermessgerät nach zehn Minuten Gehen auf dem Sprechstunden-Laufband um die 20 mg/dl weniger an als vorher. Aufgrund seiner wechselnden Arbeitszeiten kommen für den Patienten regelmäßige Sportkurse zu festen Terminen allerdings nicht infrage.
Es fällt ihm auch nicht leicht, seinen Alltag aktiver zu gestalten. „Neulich bin ich mit dem Fahrrad zur Praxis geradelt“, berichtet er. „Leider habe ich nicht die ganze Strecke geschafft. Ich musste zwischendrin schieben und habe mich sehr unfit gefühlt.“ Doch der erste Schritt ist getan: Er hat sich einen Ellipsentrainer gekauft und kann sich damit nun zu Hause ein wenig Bewegung verschaffen – auch wenn seine Kondition zunächst nur für wenige Minuten am Stück reicht.
Auch anderen Patienten hilft die laufende Sprechstunde, ihre Bewegungsscheu zu überwinden. Sie reagieren aufgeschlossener auf den Vorschlag, es doch einmal mit regelmäßigem Training zu versuchen. Perspektivisch möchte Groth auch Personal Training in Kleingruppen anbieten.
Bislang überweist Groth Patienten, die er für ein regelmäßiges Training erwärmen konnte, an die Rehasport-Gruppe des lokalen Sportvereins, mit dem die Praxis kooperiert. Eine von ihnen ist Jutta Elbeshausen. Die 66-Jährige hat seit 24 Jahren Typ-2-Diabetes, spritzt Insulin und empfindet den Alltag mit Diabetes als ständigen Kampf. „Ich habe leider viele Jahre meines Lebens verschenkt, weil ich mich nicht ausreichend bewegt habe“, sagt sie. Die laufende Sprechstunde und den Rehasport findet sie toll: „Das motiviert mich, mich besser um meinen Körper und meine Therapie zu kümmern. Die Bewegung tut auch meiner Psyche gut und ich lerne nette Leute kennen, die ähnliche gesundheitliche Probleme haben.“
In der Rehasport-Gruppe trainiert auch der 53-jährige Henning Deutschmann, seit fünf Jahren Typ-2-Diabetespatient. „Das ist nicht so anonym wie in einem Fitnessstudio. Wir kennen uns aus dem Dorf oder hier aus der Praxis. Unsere Gemeinschaft ist wie ein Netz, das einen trägt.“ Ihm ist außerdem wichtig, dass er im Rehasport fachkundig betreut wird. „In der Muckibude weiß doch kein Trainer, dass ich mit Hochdruck keine Über-Kopf-Übungen machen sollte. Auch andere Vorerkrankungen kann dort niemand richtig einordnen“, sagt Deutschmann, der dank des mehrgleisigen Behandlungskonzepts inzwischen wieder auf Insulininjektionen verzichten kann. Auch für ihn war die laufende Sprechstunde der entscheidende Impuls, sich wieder mehr zu bewegen.
Nicht nur bei Diabetespatienten kommt das Laufband zum Einsatz
Grundsätzlich bietet Groth allen seinen Patienten an, es mit der laufenden Sprechstunde zu probieren. Wer nicht gehen mag, bekommt natürlich einen Stuhl angeboten. Doch die Resonanz ist überraschend positiv: „Nur ganz wenige lehnen es von vornherein ab, auf das Laufband zu steigen“, erzählt er, „das ist ganz unabhängig vom Alter. Besonders stolz bin ich auf meine älteste Patientin, die mitmacht. Sie wird im Mai 100 Jahre alt.“ Bei seinen älteren hausärztlichen Patienten ist das Gehen auf dem Laufband für den Arzt auch eine gute Möglichkeit, sich ganz nebenbei ein Bild von ihrer Beweglichkeit und Koordination zu machen. „Man braucht nämlich eine gute Körperspannung und muss die Hüfte stabil halten, um das Laufband gleichmäßig voranzutreiben.“
Der Geharbeitsplatz ist an langen Arbeitstagen auch für ihn selbst oft ein Segen: „Neben dem Praxisalltag fehlt mir oft die Zeit fürs Training. Wenn ich also abends noch Routinearbeiten wie die DMP-Dokumentation zu erledigen habe, steige ich dafür gern aufs Laufband.“ Seine Erfahrung: Viele Tätigkeiten am Computer und auch Telefonate lassen sich problemlos im Gehen erledigen, „und von der Bewegung profitiert auch die Konzentration!“
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