Bariatrische Eingriffe Magen-OP statt Strandurlaub
Knapp 300.000 Treffer in 0,5 Sekunden spuckt Google aus, wenn man die Begriffe ‚Magen-OP‘ und ‚Türkei‘ eingibt. „Leiden Sie an extremem Übergewicht? Buchen Sie jetzt online Ihre Schlauchmagen-Operation in Istanbul!“ heißt es in deutscher Sprache auf den schick gestalteten Homepages der chirurgischen Kliniken. Endlose Galerien von Vorher-Nachher-Fotos erwecken den Eindruck, dass eine solche Reise sämtliche Gewichtsprobleme lösen kann – und zwar ganz ohne die lästige Bürokratie, die hierzulande mit einem adipositaschirurgischen Eingriff verbunden ist.
Strenge Richtlinien in Deutschland
Denn in Deutschland ist es mit ein paar Klicks bei Weitem nicht getan. So berichtet der Adipositaschirurg Prof. Dr. Oliver Mann, stellvertretender Klinikdirektor der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf: „Für die hiesigen Zentren gelten strenge Richtlinien. Da entscheiden interdisziplinäre Teams, für wen eine OP infrage kommt und für wen nicht.“ Jede*r in diesem Team hat ein Vetorecht. „Wenn also die Kollegin für Psychosomatische Medizin Bedenken hat, dann operiere ich auch nicht.“ Die in der aktuellen interdisziplinären Leitlinie verankerten Indikationen haben schließlich ihren Grund. Denn unabhängig vom jeweiligen OP-Verfahren verändert der Eingriff den gesamten Stoffwechsel, erfordert eine umfassende und lebenslange Nachsorge und kann insbesondere bei mangelnder Aufklärung zu erheblichen Komplikationen führen. Insbesondere unmittelbar nach der OP können Patient*innen erst einmal nur sehr kleine Nahrungsmengen zu sich nehmen. Halten sie sich nicht an die postoperativen Ernährungsempfehlungen, kann es aufgrund der veränderten Magen- und Darmpassage der Nahrung zu einer sturzartigen Entleerung des Magens (Dumping-Syndrom) mit schweren Hypoglykämien kommen.
Indikation zur OP: Das sagt die Leitlinie
Gemäß der aktuellen S3-Leitlinie ‚Chirurgie der Adipositas und metabolischer Erkrankungen‘ von 2018 (AWMF-Register-Nr. 088-001) ist ein adipositaschirurgischer Eingriff generell erst dann nach umfassender Aufklärung indiziert, wenn die konservative Therapie erfolglos ausgeschöpft wurde:
- bei Patienten mit BMI ≥ 40 kg/m2 ohne Begleiterkrankungen bzw. Kontraindikationen.
- bei Patienten mit BMI ≥ 35 kg/m2 mit Adipositas-assoziierten Begleiterkrankungen wie u. a. Diabetes mellitus Typ 2, koronare Herzerkrankung, Herzinsuffizienz, Hyperlipidämie, Hypertonie oder nicht-alkoholische Fettleber (NAFLD).
Für Prof. Mann ist deshalb klar: „Bei Menschen mit einem BMI von 35 kg/m2 muss erst einmal eine konservative Therapie erfolgen.“ Das bedeutet in erster Linie eine Lebensstiländerung: „Sie müssen über einen Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten ernsthaft und unter ärztlicher Begleitung versuchen, durch mehr Bewegung und Ernährungsumstellung Gewicht zu verlieren“, sagt der Adipositaschirurg. Erst wenn dies nicht gelingt und das psychologische Gutachten keinen Hinweis auf eine Essstörung liefert, kann als Ultima Ratio eine Operation erwogen werden. Doch selbst wenn alle Spezialist*innen im interdisziplinären Konsens eine Operation medizinisch für dringend erforderlich halten, stellen sich die gesetzlichen Krankenkassen häufig quer und verweigern die Kostenübernahme. „Wir haben nicht selten jahrelange juristische Auseinandersetzungen mit den Krankenkassen, obwohl leitliniengetreue Indikationen in hochspezialisierten Zentren gestellt worden sind“, beklagt Prof. Mann.
Langes Prozedere zerrt auch an den Nerven
Manchen Patient*innen ist dieser Weg zu mühsam. „Sie empfinden das Prozedere als Strafe und denken, sie hätten doch schon wirklich alles unternommen, um Gewicht zu verlieren“, weiß Melanie Bahlke, die sich als Vorsitzende der Adipositaschirurgie-Selbsthilfe Deutschland für eine bessere Versorgung von Menschen mit Adipositas einsetzt. Eine Operation in einer türkischen Klinik erscheint insbesondere Menschen, die aus der Türkei stammen oder familiäre Bindungen dorthin haben, dann als eine einfache Option, die überschüssigen Kilos und auch das damit verbundene Stigma hinter sich zu lassen. Bahlke beobachtet, dass viele der dortigen Kliniken äußerst aggressiv in Deutschland um Patient*innen werben: „Menschen wie ich, die offen mit ihrer Adipositas umgehen und eine hohe Reichweite in den sozialen Medien haben, werden oft von diesen Kliniken angeschrieben. Man hat mir tatsächlich für die Vermittlung von OP-Patient*innen Provision angeboten!“
Effektive OP-Verfahren zur Therapie der Adipositas
Restriktive Verfahren bewirken einen Gewichtsverlust im Wesentlichen durch die Verkleinerung des Magens, bei malabsorptiven Verfahren geschieht dies vor allem durch Hemmung der Nährstoffaufnahme im Verdauungstrakt.
- Schlauchmagen: Standardoperation mit longitudinaler Magenresektion, durch die sich das Magenvolumen um 80–90 % reduziert. Restriktives Verfahren
- Roux-en-Y-Magenbypass (RYGB): Standardoperation, bei der am Mageneingang ein kleiner Vormagen (Magenpouch) gebildet und der restliche Magen ausgeschaltet wird. Der Magenpouch wird über eine kalibrierte Anastomose mit dem Dünndarm verbunden, wobei eine biliopankreatische Schlinge von der Nahrungspassage ausgeschlossen wird. Restriktives Verfahren
- Omega-Loop-Magenbypass: Weiterentwicklung des klassischen RYGB, bei dem nur eine Anastomose zwischen Magenpouch und Dünndarm hergestellt wird. Restriktives Verfahren
- Biliopankreatische Diversion mit/ohne Duodenal Switch (BPD-DS): Umgehung des Pylorus und Trennung des nahrungsführenden Darms von den Verdauungssekreten. Erst kurz vor dem Dickdarm werden die Verdauungssekrete mit der Nahrung zusammengeführt. Malabsorptives Verfahren.
Die meiste Evidenz liegt für RYGB und Schlauchmagen vor. Postoperativ sind eine lebenslange Nachsorge in einem geeigneten Zentrum und eine dauerhafte Supplementation von Vitaminen, Spurenelementen, Kalzium und Eiweiß zur Prophylaxe von Mangelerscheinungen infolge Fehlernährung oder bei Malabsorption erforderlich.
Beratung und Begleitung im Ausland? Fehlanzeige!
Nach der vermeintlich so einfachen Operation in der Türkei folgt für viele OP-Tourist*innen allerdings ein böses Erwachen: „Sie haben nach dem Eingriff Beschwerden oder Komplikationen und nehmen die erforderlichen teuren Vitaminsupplemente nicht ein“, berichtet Gülcan Celen, die als Diätassistentin im Zentrum für Adipositaschirurgie der DRK-Kliniken Berlin-Mitte arbeitet. Vor allem aber fehlt es an Beratung und Begleitung der Patient*innen: „Dabei sollte man ihnen vor der OP eigentlich klarmachen, dass der Eingriff nur dann sinnvoll ist, wenn sie auch ihr Essverhalten verändern. Sie müssen doch erst einmal verstehen, warum sie nachts zum Kühlschrank gehen oder immer zu viel Süßes essen“, sagt die Diabetesberaterin. „Doch wenn der Arzt verspricht, dass die OP dünn macht, dann hinterfragen das viele ganz einfach nicht.“