Entscheidung gegen Adipositaschirurgie fällt häufig aufgrund von Trugschlüssen
Niemand erwägt eine Adipositaschirurgie, wenn er keine Notwendigkeit dafür sieht. Damit wäre schon ein Grund genannt, warum viele gar nicht erst an einen Eingriff denken: Sie glauben, sie seien zu schlank dafür. Eine Umfrage in den USA ergab beispielsweise, dass rund jeder zweite Adipöse sich mit der Diagnose falsch eingestuft sieht und sich knapp 60 % der übergewichtigen für normalgewichtige Menschen halten.
Jeder Zweite denkt, komplett selbst verantwortlich zu sein
Einer weiteren Fehleinschätzung unterliegen viele, wenn es um die Ursachen geht, berichtet Dr. Gretchen E. Ames von der Abteilung für Psychiatrie und Psychologie der Mayo Clinic in Jacksonville zusammen mit Kollegen. Gene, das adipositasfördernde Umfeld der heutigen Gesellschaft und medizinische Ursachen bzw. Medikamente werden nur von den wenigsten als Faktoren akzeptiert, die zu dem hohen BMI geführt haben. Für jeden Zweiten handelt es sich um ein reines Lifestyle-Problem, das durch mangelnde Willensstärke und Bequemlichkeit entsteht und sich durch diszipliniertes „weniger Essen und mehr Bewegen“ lösen lässt. Doch insbesondere für stark Adipöse ist ein solcher Ansatz schwer umzusetzen. Nicht nur, dass sie pro Tag mindestens eine Stunde Sport treiben müssten, es wäre gleichzeitig eine deutliche Kalorienreduzierung notwendig, und das auf unbestimmte Zeit.
Reiht sich dann eine erfolglose Diät an die nächste, schämen sich die Betroffenen, was nicht nur dazu führt, dass sie sich „aufgeben“, sondern viele davon abhält, ihr Problem beim Arzt zu thematisieren. Von sich aus würden sie die Diskussion niemals anregen oder einen bariatrischen Eingriff ins Gespräch bringen, so die Autoren. Auch deswegen, weil die Adipositaschirurgie dann der Beweis für das eigene Versagen wäre und das Adipositas-Klischee insofern bedient, dass viele denken, eine OP wäre der bequeme Weg. Gleichzeitig haben die Patienten Angst vor den Risiken einer derart invasiven Gegenmaßnahme. Insbesondere die Adipösen, die am meisten davon profitieren würden, zeigten die meisten Ängste und Vorurteile, lautet die Einschätzung der Autoren.
Adäquat auf Ängste, Scham und Geschichten eingehen
Selbst wenn Zweifel bestehen, dass psychologische Probleme oder Ähnliches einer solchen Lösung entgegenstehen, soll man statt aufzugeben, die Betroffenen lieber an ein spezialisiertes Zentrum weiterleiten. Lebensstiländerungen seien zwar weiterhin das Fundament jeder erfolgreichen Therapie, sie sollten aber insbesondere bei stark Adipösen niemals die einzige Empfehlung bleiben, raten die Autoren. Gerade bei Patienten mit schlechten Diät-Erfahrungen sei beim Gespräch über Lebensstiländerungen Vorsicht angebracht, weil man sie so in ihrem Glauben bestärken könnte, versagt zu haben. Stellt man die Option bariatrische OP zur Diskussion, sollte man vorbereitet sein, betonen die Autoren, um adäquat auf Ängste, Scham und auch Geschichten aus Internetforen oder „von Bekannten“ eingehen zu können.Quelle: Ames GE et al. Mayo Clin Proc 2020; 95: 527-540; DOI: 10.1016/j.mayocp.2019.09.019