Schwerhörigkeit: Patienten erhalten selten eine adäquate Therapie
Unter Hörstörungen versteht man alle Formen der Schwerhörigkeit (Hypakusis) – von einer geringen Hörminderung, die etwa 56 % aller Fälle ausmacht, bis hin zur mittel- oder hochgradigen Schwerhörigkeit oder Ertaubung (44 %). Unter Kindern liegt die Prävalenz der behandlungsbedürftigen Hypakusis bei 1–4 %.
Schwerhörigkeit lässt sich anhand verschiedener Kriterien einteilen, erklären Dr. Christoph Külkens und Dr. Oliver Niclaus von der Abteilung für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde der Asklepios Klinik Nord in Heidberg:
- Schweregrad
- anatomische Lokalisation
- Art der Signalverarbeitung
- Alter des Patienten
- zeitlicher Verlauf
Die WHO unterscheidet fünf unterschiedliche Schweregrade. Als normalhörig (Grad 0) gilt, wer einen mittleren Hörverlust von ≤ 25 dB aufweist. Zwischen 26 und 40 dB liegt eine geringgradige Schwerhörigkeit (Grad 1) vor. Mittelgradig (Grad 2) ist die Hörminderung bei Werten von 41 bis 60 dB, eine hochgradige Hypakusis (Grad 3) besteht bei Werten ab 61 dB. Grad 4, Taubheit, wird definiert als ein mittlerer Hörverlust von mindestens 81 dB. Eine genauere Einschätzung lässt sich durch Zuhilfenahme eines Sprachaudiogramms erreichen. Hierbei wird das Verstehen zweistelliger Zahlen und einsilbiger Worte in Abhängigkeit vom Schallpegel getestet.
Schallleitung oder Schallempfindung gestört?
Je nach anatomischer Lokalisation bzw. der Art der Schallsignalverarbeitung spricht man von einer Schallleitungs- oder von einer Schallempfindungsschwerhörigkeit. Bei Ersterer sind die Störungen mechanischer Art. Therapie der ersten Wahl ist die OP. Bei der (sensorineuralen) Schallempfindungsschwerhörigkeit liegen dagegen Störungen im Bereich der Cochlea (z.B. Haarzellen) und/oder des Hörnervs vor. Eine zentrale Hypakusis besteht bei Veränderungen der Hörbahn oder der Hörzentren.
Hinsichtlich des Zeitpunkts, zu dem die Hörminderung zum ersten Mal in Erscheinung tritt, unterscheidet man bei Kindern zwischen einem perinatalen, prälingualen oder postlingualen Auftreten. Kommt es bei Erwachsenen über 50 Jahre zu einer beidseitigen Hochtonschwerhörigkeit, die typischerweise im weiteren Verlauf des Lebens fortschreitet, spricht man von Altersschwerhörigkeit (Presbyakusis). Männer sind stärker betroffen als Frauen.
Das Hörvermögen sicherzustellen, ist in jedem Alter wichtig, betonen die Autoren. Bei Kindern ermöglicht die frühe Therapie bestenfalls eine uneingeschränkte Entwicklung sowie die Teilhabe an Aus- und Weiterbildung. Im Alter kann eine unbehandelte Hypakusis in Bezug auf die Entwicklung einer Demenz eine Rolle spielen.
Als Behandlung der Wahl bei mittel- bis hochgradiger sensorineuraler Hypakusis gilt die Versorgung mit einem Hörgerät. Die Indikation dafür stellt der HNO-Arzt. Er ist es auch, der (nach Anpassung des Geräts durch einen Hörakustiker) die erfolgreiche Versorgung durch eine Abschlussuntersuchung bestätigt. Obwohl die Geräte inzwischen sehr klein sind und wenig auffallen, wird das Tragen einer Hörhilfe von vielen Menschen noch immer als stigmatisierend empfunden, schreiben die Experten.
Im-Ohr-Geräte können im Gehörgang irritieren
Nur etwa 15 % der über 60-Jährigen sind mit einem Hörgerät versorgt – indiziert wäre das Tragen jedoch bei etwa 60 %. Am häufigsten setzt man Hinter-dem-Ohr-Geräte ein, aber auch Im-Ohr-Geräte sind möglich. Letztere werden oft bevorzugt, da sie kosmetisch unauffälliger sind. Allerdings führen sie durch den Luftabschluss im Gehörgang mitunter zu Irritationen. Ist nur ein Ohr von einer hochgradigen Hörminderung oder einer Taubheit betroffen, das andere Ohr jedoch gesund, kommt ggf. eine CROS*-Versorgung infrage. Dabei wird der Schall von der Seite des tauben Ohrs auf die gesunde Seite übertragen. Schallleitungsstörungen, die nicht mittels OP zu verbessern sind, lassen sich durch Knochenleitungshörgeräte z.B. mit Hinterkopfbügel mindern.
Wer nicht oder nicht zufriedenstellend durch OP oder ein konventionelles Hörgerät versorgt werden kann, eignet sich evtl. für ein implantierbares System. Durch die Geräte werden die Gehörknöchelchen, der Schädelknochen oder die Cochlea stimuliert. Beispiele für implantierbare Systeme sind transkutane Knochenleitungs- oder Mittelohrimplantate. Für Patienten mit hochgradiger sensorineuraler Innenohrschwerhörigkeit oder Ertaubung kommen Cochlea-Implantate infrage. Liegt der Schaden jenseits der Cochlea im Bereich des Hörnervs, kann ein Hirnstammimplantat eingesetzt werden. Das kann den Hörverlust zwar nicht mehr unbedingt kompensieren, aber erleichtert zumindest über zusätzliche Höreindrücke das Lippenlesen.
* contralateral routing of signals
Quelle: Külkens C, Niclaus O. Hamburger Ärzteblatt 2021; 75: 12-17