ESC-Leitlinie Screening und kardiovaskuläre Risikostratifizierung bei Diabetes
Professor Dr. Nikolaus Marx, Universitätsklinikum Aachen, erläuterte den Hintergrund der neuen Guidelines, die nach seinen Worten „drei Runden Reviews“ durchlaufen hatten: So hätten Menschen mit Typ-2-Diabetes ein zwei- bis vierfach erhöhtes Risiko für Schlaganfall, koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern und PAVK gegenüber Menschen ohne Diabetes. „Und wenn eine kardiovaskuläre Erkrankung auftritt, ist die Prognose schlecht.“
Die Sterblichkeit erhöhe sich für Herzinsuffizienz bei einem begleitenden Diabetes um 50 bis 90 %. Da jedoch bei geschätzt 20 bis 40 % der Patient*innen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen der Diabetes unentdeckt bleibe, raten die neuen Leitlinien zu einem systematischen Screening auf Typ-2-Diabetes. „Diese Personen zu identifizieren, ist ein zentraler Punkt unserer Leitlinie“, betonte Prof. Marx. Für das Screening sollten einfache Methoden wie der Nüchternblutzucker und/oder der HbA1c-Wert genutzt werden.
Neu: Nierenprotektion als eigenes Thema aufgenommen
Für Menschen mit bereits diagnostiziertem Typ-2-Diabetes wird u.a. eine systematische Untersuchung auf Symptome einer Herzinsuffizienz und ein routinemäßiges Screening auf eine Nierenschädigung empfohlen, erläuterte Professor Dr. Dirk Müller-Wieland, Universitätsklinikum Aachen. Um die Bedeutung der Nierenprotektion beim Typ-2-Diabetes hervorzuheben, habe dieses Thema nun ein eigenes Kapitel in den Guidelines erhalten. Die chronische Nierenerkrankung werde gleichermaßen durch die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) als Parameter für die Nierenfunktion und den Albumin-Kreatinin-Quotient im Urin (UACR) als Parameter für Nierenschäden definiert. Man müsse beide Werte mindestens einmal pro Jahr bestimmen, sagte der Diabetologe, und gegebenenfalls rasch mit einer Therapie beginnen.
Die Einbeziehung von Nephrologen wird laut der neuen Leitlinie (erst) bei ansteigenden Serumphosphatwerten oder anderen Anzeichen für Störungen des Mineral- und Knochenhaushalts (CKD-MBD) sowie renaler Anämie erforderlich. „Warten Sie nicht auf den Nephrologen, behandeln Sie rechtzeitig!“, mahnte Prof. Müller-Wieland eindringlich. Bei gleichzeitigem Vorliegen von Typ-2-Diabetes und chronischer Nierenerkrankung empfiehlt die Leitlinie bei definierten Nierenparametern sowohl SGLT2-Inhibitoren als auch Finerenon zur Reduktion des Risikos für chronische Nierenerkrankung und Nierenversagen.
SCORE2-Diabetes als Vorhersagemodell gewählt
Mittels des Tools „SCORE2-Diabetes“, das bereits als App verfügbar ist, soll sich das 10-Jahres-Risiko für tödliche und nicht-tödliche Myokardinfarkte und Schlaganfälle abschätzen lassen. Bisherige Vorhersagemodelle, die das diabetesspezifische Risiko von jenen Patient*innen identifizieren, die am meisten von einer Behandlung profitieren, basieren auf älteren Kohorten-Daten und sind nicht für geografische Regionen rekalibriert, wie Professor Dr. Emanuele Di Angelantonio, Universität Cambridge, erläuterte.
Der SCORE2-Diabetes wurde kalibriert, um das kardiovaskuläre Risiko im europäischen Raum in vier Kategorien einteilen zu können. Die zugrundeliegenden Algorithmen berücksichtigten zunächst Alter, Geschlecht, Rauchstatus, Diabetes, systolischen Blutdruck sowie Gesamt- und HDL-Cholesterin, erläuterte der klinische Epidemiologe. Für Menschen mit Typ-2-Diabetes wurde der Score durch die Einbeziehung des Alters bei Diabetesdiagnose, HbA1c und eGFR angepasst. Eine externe Validierung erfolgte mit mehr als 217.000 europäischen Proband*innen. Das neue Tool wurde zur Abschätzung des kardiovaskulären 10-Jahres-Risikos bei Patient*innen mit Typ-2-Diabetes mit in die 2023er-Leitlinien aufgenommen (Evidenzklasse I, Level B).
Kommantar von Prof. Dr. Nikolaus Marx und Prof. Dr. Dirk Müller-Wieland zu den neuen Leitlinien: „63 der 144 Empfehlungen sind neu“
Die neue Leitlinie zum Management kardiovaskulärer Erkrankungen bei Patienten mit Diabetes wurde unter Leitung von Prof. Dr. Nikolaus Marx (Kardiologe) aus Aachen und Prof. Massimo Federici (Diabetologe) aus Rom unter Koordination von PD Dr. Katharina Schütt, Kardiologin aus Aachen, und Prof. Dr. Dirk Müller-Wieland, Diabetologe aus Aachen, erarbeitet. An dieser Leitlinie waren 22 Autoren aus 12 Ländern beteiligt, darunter neben Kardiologen sechs Diabetologen, ein Nephrologe und Vertreter für Patienten bzw. Betroffene und Pflege.
Die Leitlinienerstellung der ESC erfolgt nach streng definierten Vorgaben, um sicherzustellen, dass die erarbeiteten Empfehlungen evidenzbasiert sind und auf breitem Konsens beruhen. Insgesamt gibt es 144 Empfehlungen, 63 dieser Empfehlungen sind neu. Alle gegebenen Empfehlungen werden einer Abstimmung unterzogen und müssen eine 75%ige Zustimmung aller Autoren erfüllen. Insgesamt durchlief das Leitliniendokument drei Begutachtungsrunden durch 49 Reviewer aus 18 Ländern und alle der mehr als 2.000 Kommentare mussten adressiert werden. Entscheidend für die Leitlinie der ESC ist, dass sie daten- und evidenzbasiert ist und weitere Aspekte wie Zulassungstext, Verfügbarkeit und Kosten nicht in die Empfehlungen einbezogen werden – dies unterscheidet die ESC-Leitlinie von anderen Empfehlungen z.B. der EASD.
Die wesentlichen Neuerungen der ESC-Leitlinie 2023 gegenüber der alten Version aus dem Jahr 2019 beinhalten:
- eine verbesserte kardiovaskuläre Risikoeinschätzung bei Patienten mit Typ-2-Diabetes (T2DM) mithilfe eines neuen Scores (SCORE2-Diabetes) sowie
- dezidierte, evidenzbasierte und personenzentrierte Therapie-Strategien für Patienten mit T2DM und atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung, Herzinsuffizienz oder chronischer Niereninsuffizienz.
In der nächsten Ausgabe der diabetes zeitung wird auf die medikamentöse Therapie eingegangen; im Kommentar werden wir die Aussagen zur Versorgung von Menschen mit Typ-1-Diabetes in der Leitlinie näher erläutern.
ESC Congress 2023
Literatur: Marx N et al. Eur Heart J 2023; 0: 1-98; doi: 10.1093/eurheartj/ehad192