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Neue Leitlinie Den Menschen behandeln, nicht allein den Diabetes

Autor: Dr. Vera Seifert

Die Betazellen der Langerhans-Inseln produzieren und speichern Insulin. Bei Diabetes gehen sie zugrunde Die Betazellen der Langerhans-Inseln produzieren und speichern Insulin. Bei Diabetes gehen sie zugrunde © Science Photo Library/Gschmeissner, Steve
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Individuelle Bedürfnisse der Patienten sollten bei Therapieentscheidungen eine größere Rolle spielen, heißt es in der aktuellen S3-Leitlinie zum Typ-1-Diabetes. Zudem gilt es, die vielfältigen Möglichkeiten und Risiken moderner Technologien genau zu betrachten.

Diabetestechnologien wie Glukosesensoren, Insulinpumpen und automatische Insulin­dosiersysteme (AID) haben inzwischen einen festen Platz bei der Behandlung von Menschen mit Typ-1-Diabetes. Noch fehlen zwar Studien zum Langzeit-Outcome. Aber es gibt zahlreiche Daten zur Effektivität, die in der neuen Leitlinie unter Federführung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) zusammengetragen wurden. Außerdem spielt darin eine große Rolle, wie die Patienten in Entscheidungen zu Diagnostik und Therapie einbezogen werden sollten. Natürlich wurden auch alle Empfehlungen der vor fünf Jahren zuletzt aktualisierten Leitlinie erneut geprüft und überarbeitet.

In Deutschland liegt die Häufigkeit des Typ-I-Diabetes bei Erwachsenen nach Schätzungen aus dem Jahr 2016 bei 493 pro 100.000 Personen. Der vieldiskutierte Anstieg der Prävalenz hat sich zwischen 2002 und 2020 abgeflacht. Seit 2014 gibt es nur noch bei Kindern und Jugendlichen eine Zunahme.

Bei der Vereinbarung von Therapiezielen müssen z.B. Alter, Lebenserwartung, individuelle Wertvorstellungen und Lebenssituation berücksichtigt werden, aber auch Kognition und sensomotorische Fähigkeiten. Für die gemeinsame Priorisierung der Ziele kann es hilfreich sein, sie in Kategorien einzuteilen (s. Kasten). Als wichtige übergeordnete Therapieziele nennt die Leitlinie beispielsweise:

  • Erhalt von subjektiv empfundener guter Lebensqualität 
  • Risikoreduzierung für Folge­erkrankungen
  • Vermeidung von Akutkomplikationen (Hypo-/Hyperglykämien)
  • Optimierung wichtiger Risikofaktoren (Nieren- und Herzinsuffizienz, Tabakkonsum, Hypertonie, Hyperlipidämie)

Oft können Menschen mit Diabetes ihre Therapieziele nur mit großer Anstrengung erreichen oder sie müssen dabei Risiken in Kauf nehmen. Dann gilt es, im Rahmen einer partizipativen Entscheidungsfindung abzuwägen, was dem Einzelnen besonders wichtig ist. 

Therapieziele bei Typ-1-Diabetes

Zur besseren Übersicht und zur Priorisierung lassen sich die Therapieziele in drei Kategorien einteilen:

Übergeordnete Lebensziele

  • Lebensqualität erhalten oder wiederherstellen

  • Teilhabe am Leben ermöglichen

  • Unabhängigkeit gewährleisten

  • vorzeitigen Tod verhindern

Funktionsbezogene Ziele

  • Sehkraft erhalten

  • Selbstständigkeit erhalten (z.B. Mobilität sicherstellen)

  • Arbeitsplatz erhalten

  • Belastungen und Nebenwirkungen durch die Therapie minimieren

  • Sexualfunktionen erhalten

Krankheitsbezogene Ziele

  • Schmerzen lindern

  • Schlaf verbessern

  • Stoffwechselkontrolle optimieren

  • Essen ohne schlechtes Gewissen

  • Folgeschäden vermeiden (u.a. Nieren- und Blasenfunktion)

Patienten mit Typ-1-Diabetes sollten darüber aufgeklärt werden, dass die früher gefürchtete Exzessmortalität inzwischen deutlich abgenommen hat. Außerdem müssen sie wissen, welche Bedeutung Folgekrankheiten wie Nephropathie, Retinopathie, Neuropathien und Makro­angiopathien für die Prognose haben und wie man sie beeinflussen kann.

Meist gilt ein HbA1c-Ziel zwischen 6,5 und 7,5 %

Auch der anzustrebende HbA1c-Wert sollte individuell festgelegt werden, wobei u.a. Erkrankungsdauer, Lebenserwartung, Patientenpräferenz und die Risiken für Hypo- und Hyperglykämien eine Rolle spielen. Generell werden folgende Zielkorridore in den Leitlinien genannt, die im Vergleich zur letzten Leitlinie unverändert geblieben sind:

  • Bei gehäuften schweren Unterzuckerungen, extensiven Komorbiditäten oder fortgeschrittenen makrovaskulären Komplikationen: < 8,5 %
  • Wenn keine problematischen Hypoglykämien auftreten: ≤ 7,5 %
  • Wenn ein niedriges intrinsisches Hypoglykämierisiko besteht (z.B. neuer manifester Typ-1-Diabetes): ≤  6,5 %

Steigt das HbA1c auf Werte über 9 %, ist mit Symptomen der Hyperglyk­ämie und einem deutlich erhöhten Risiko für Folgeerkrankungen zu rechnen. Bei einer Senkung unter 6,5 % überwiegen dagegen die Risiken oft den möglichen Nutzen. Für die meisten Menschen mit Typ-1-Diabetes gilt ein Zielkorridor zwischen 6,5 und 7,5 %, heißt es in der Leitlinie.

Moderne CGM-Systeme* speichern u.a. die Time in Range (TiR; Anteil der Zeit, in der die Glukosewerte im Zielbereich liegen, d.h. meist 70–180 mg/dl). Die Zielwerte sollten individuell festgelegt werden: > 70 % TiR im Normalfall und > 50 % für Menschen mit eingeschränkter Lebenserwartung oder häufigen Hypoglykämien. Ein individuell vereinbarter Zielwert gilt auch für die Glukosezielwerte nüchtern und postprandial, unabhängig von der Messmethode. 

Zur partizipativen Entscheidungsfindung gehört laut den Autoren der Leitlinie, dass die Sprache der Ärzte und der Diabetesfachkräfte respektvoll und frei von Stigmatisierungen ist. So sollte man Menschen mit Diabetes ihnen zufolge nicht als „Diabetiker“ bezeichnen, nicht als „non-compliant“ beschreiben und nicht für ihren Gesundheitszustand verantwortlich machen. Noch wichtiger als Worte sei dabei ohne Frage die wertschätzende innere Haltung.

Neue Technologien sind ein weiterer Schwerpunkt der Leitlinie. Ein kontinuierliches Glukosemonitoring ist allen Menschen mit Typ-1-Diabetes anzubieten, heißt es. Sollten unter intensivierter Insulintherapie die Behandlungsziele nicht erreicht werden oder kommt es zu häufigen bzw. rezidivierenden Hypoglykämien, ist eine Insulinpumpe mit AID-Algorithmus zu empfehlen. Manuelle Insulinpumpen sollten möglichst nicht mehr verordnet werden. Sie kommen höchstens infrage, wenn der Patient mit den verfügbaren AID-Systemen nicht zurecht kommt oder kein geeignetes CGM-System zur Verfügung steht.

AID-Systeme bestehen aus einer Insulinpumpe, einem kompatiblen CGM-Sensor und einem Algorithmus, der auf einem Smartphone oder einem eigenen Gerät des Herstellers läuft. Die basale Insulinzufuhr sowie Korrekturabgaben erfolgen automatisch, Mahlzeitenboli werden manuell abgerufen. Die verfügbaren Systeme sind relativ homogen. Studien konnten zeigen, dass die Time in Range im Mittel im therapeutischen Bereich liegt – das gelingt mit keiner anderen Behandlungsform, betonen die Autoren. Der HbA1c-Wert verbessert sich um > 0,3 %, was als klinisch relevant gilt. Hypoglykämien nehmen um ca. 1 % ab.

Völlig unproblematisch ist aber auch die AID-Therapie nicht. Es kann unter anderem zu Katheterproblemen, Dislokation oder abgeknickten Nadeln kommen, zu Pflasterallergien oder Bedienfehlern. Insgesamt sind unerwünschte Nebenwirkungen aber eher selten. Eine eingehende Schulung und die Anbindung an eine diabetologische Einrichtung mit entsprechend erfahrenen Fachkräften sind bei dieser komplexen Technologie unabdingbar, so die Leitlinienautoren.

* kontinuierliche Glukosemessung

Quelle: S3-Leitlinie Therapie des Typ1-1-Diabetes, Version 5, AWMF-Register-Nr. 057-013; register.awmf.org/de/leitlinien/detail/057-013