Sepsismanagement: „Orale Antidiabetika müssen abgesetzt werden“

Interview Autor: Ulrike Viegener

Bei einer Sepsis sind orale Antidabetika nicht geeignet, den Stoffwechsel zu kontrollieren. Bei einer Sepsis sind orale Antidabetika nicht geeignet, den Stoffwechsel zu kontrollieren. © Syda Productions – stock.adobe.com

Eine Sepsis ist immer lebensbedrohlich. Warum Diabetespatienten besonders gefährdet sind und was es in der Behandlung zu beachten gilt, erklärt der Diabetologe Professor Dr. Juris Meier aus Bochum.

Wie stark ist das Sepsisrisiko bei Menschen mit Diabetes erhöht?

Prof. Dr. Juris J. Meier: Das Risiko schwerer Infektionsverläufe bzw. einer Sepsis ist bei Diabetespatienten deutlich erhöht. Exakte Zahlen gibt es dazu nicht.

Sind alle Diabetespatienten betroffen oder gibt es Hochrisikokonstellationen?

Prof. Meier: Grundsätzlich sind alle Menschen mit Diabetes betroffen. Denn die Hyperglykämie selbst ist ein wesentlicher Faktor, der zum erhöhten Sepsisrisiko beiträgt. Sprich: Patienten mit hohen Blutzuckerwerten tragen ein höheres Risiko als gut eingestellte Personen. Die Gründe sind nicht abschließend geklärt. Wahrscheinlich wird durch eine akute Hyperglykämie die Funktion der neutrophilen Granulozyten gehemmt. Außerdem wirkt sich bei schlechter Stoffwechsellage die Anhäufung von AGE (Advanced Glycation Endproducts) negativ auf die Immunabwehr aus.

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, bei Diabetespatienten mit Sepsis die Blutzuckerwerte gut einzustellen. Wir streben heute in dieser Situation Werte zwischen 140 mg/dl und 180 mg/dl an. Früher wurde diskutiert, ob sich die Prognose vielleicht durch eine weitere Absenkung des Blutzuckers noch verbessern ließe. Das hatte sich zunächst in Studien angedeutet. Dann jedoch stellte sich heraus, dass bei einer weiteren Intensivierung der Insulintherapie der potenzielle Nutzen durch das Risiko schwerer Hypoglykämien zunichte gemacht wird – zumindest im normalen Setting auf einer Intensivstation scheint das so zu sein. Deshalb wurden dann die genannten Zielwerte definiert.

Auf jeden Fall aber eine Insulintherapie . . .

Prof. Meier: Ja, unbedingt. Die Insulintherapie wird intravenös begonnen. Später, wenn die Patienten stabil sind, kann man eventuell auf die subkutane Gabe umstellen. Orale Antidiabetika müssen bei einer Sepsis abgesetzt werden. Sie sind in dieser Situation nicht geeignet, den Stoffwechsel zu kontrollieren. Und manche Wirkstoffe – z.B. Metformin oder SGLT2-Hemmer – können zudem gefährliche Nebenwirkungen hervorrufen und so die Situation weiter komplizieren.

Gibt es außer der Hyperglykämie weitere Risikofaktoren für eine Sepsis?

Prof. Meier: Ja, ein wichtiger Aspekt sind Folge- und Komorbiditäten des Diabetes, die das Sepsisrisiko weiter deutlich ansteigen lassen. Dazu zählen Adipositas, koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, arterielle Hypertonie und Niereninsuffizienz. Alle diese Faktoren beeinflussen letztlich die Immunabwehr negativ und erhöhen so das Sepsisrisiko. Beim diabetischen Fuß als wichtigem Risikosyndrom spielen periphere arterielle Verschlusskrankheit und Polyneuropathie eine zentrale Rolle. Die Polyneuropathie insofern, als betroffene Patienten infizierte Wunden am Fuß verzögert oder gar nicht wahrnehmen.

Letztlich sind aber doch immer Defizite bei der Immunabwehr für das erhöhte Sepsisrisiko verantwortlich?

Prof. Meier: Im Grunde schon, wobei die Immunabwehr ja ein komplexes Konstrukt ist. Die immunologischen Störungen beim Diabetes sind nicht abschließend geklärt. Sicher ist, dass Funktionsstörungen aufseiten der neutrophilen Granulozyten und der T-Zellen eine Rolle spielen. Wie sich Hyperglykämie und diabetische Komorbiditäten auf das Immungeschehen auswirken, ist im Detail noch nicht verstanden.

Welche Relevanz hat der dia­betische Fuß mit Blick auf das Sepsisrisiko? Und gibt es weitere typische Infektionen bei Menschen mit Diabetes, die ein hohes Sepsisrisiko bergen?

Prof. Meier: Die diabetische Polyneuropathie kann dazu führen, dass Patienten Verletzungen an den Füßen verzögert oder gar nicht bemerken. Aus einem winzigen Riss kann so eine größere infizierte Wunde werden, und es besteht das Risiko, dass Keime in den Blutkreislauf gelangen. Deshalb ist die regelmäßige Fußinspektion so wichtig. Menschen mit Diabetes sollten ihre Füße regelmäßig von allen Seiten in Augenschein nehmen, oder falls sie selbst dazu nicht in der Lage sind, diese Aufgabe einem Angehörigen oder einem Fußpfleger übertragen. Zusätzlich soll in regelmäßigen Abständen eine Fußinspektion durch den Arzt erfolgen. Bei entzündeten Läsionen ist in der Regel von einer bakteriellen Infektion auszugehen, weshalb eine frühzeitige Antibiose indiziert ist.

Diabetespatienten sollten wissen, dass sie wegen der geschwächten Immunabwehr auch kleine Bagatellverletzungen ernst nehmen sollten. Ein kontaminierter Dorn zum Beispiel, den man sich bei der Gartenarbeit zuzieht, kann im ungünstigen Fall zu einer Sepsis führen. Eine weitere typische Sepsisquelle bei Menschen mit Diabetes sind Harnwegsinfekte, die vor allem bei Frauen häufig vorkommen. Und dann die pulmonalen Infektionen. Das Pneumonierisiko ist erhöht. Deshalb die dringende Empfehlung: Diabetespatienten sollten sich unbedingt gegen Pneumokokken impfen lassen. Diese Empfehlung gilt auch für jüngere Patienten, also nicht erst ab dem 60. Lebensjahr wie bei Nicht-Diabetikern. Außerdem ist eine Influenzaimpfung anzuraten. Denn auch das Risiko, eine Influenzapneumonie und in der Folge eventuell eine Sepsis zu entwickeln und daran zu versterben, ist bei Diabetes erhöht.

Es ist also nicht nur die Sepsisinzidenz, sondern auch die Sepsissterblichkeit erhöht?

Prof. Meier: Ja, auch das Risiko schwerer Verläufe sowie die Mortalität sind deutlich erhöht. Das sehen wir ja auch bei COVID19-Infektionen. In einer großen chinesischen Studie, die 2020 im New England Journal publiziert wurde, hatten Menschen mit Diabetes doppelt so häufig schwere COVID-19-Verläufe wie Nicht-Diabetiker. Was man bei COVID-19-Erkrankungen auch gesehen hat: Gut eingestellte Patienten haben eine deutlich bessere Prognose als schlecht eingestellte!

Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist die frühzeitige Erkennung einer Sepsis. Deshalb zum Schluss noch die Frage: Wann besteht der Verdacht auf eine Sepsis?

Prof. Meier: Klassische Zeichen einer Sepsis sind Fieber über 38,5 Grad, möglicherweise assoziiert mit Schüttelfrost, dann eine erhöhte Atemfrequenz sowie eine Tachykardie über 90. Hochverdächtig ist ein positiver Schockindex, das heißt Puls über 90 plus niedriger systolischer Blutdruck unter 90 mmHg. Und ein weiteres Symptom, bei dem man auch an eine Sepsis denken sollte, ist Verwirrtheit oder eine unklare Bewusstseinseintrübung bzw. Somnolenz. Im Verdachtsfall sollte man immer gezielt nach lokalen Infektionsherden suchen, von denen eine Sepsis ausgehen könnte. Also: Zeigt der Patient Anzeichen eines Atemwegsinfekts oder einer Harnwegsinfektion, oder sind an den Füßen entzündliche Prozesse festzustellen? Eine Besonderheit beim Diabetes ist, dass Infektionen oft asymptomatisch oder symptomarm verlaufen. Viele nehmen aufgrund einer Polyneuropathie Symptome oder Schmerzen nicht wahr. Deshalb kann man sich nur sehr eingeschränkt auf die Patientenbefragung stützen und muss den Patienten bei Verdacht auf eine Sepsis sehr genau klinisch untersuchen.

Prof. Dr. Juris J. Meier, Chefarzt für Diabetologie in Bochum Prof. Dr. Juris J. Meier, Chefarzt für Diabetologie in Bochum © zVg