
Häufig übersehen: Depression in der Hausarztpraxis Warum Depressionen oft unerkannt bleiben

Zwischen 5 und 10 % der Menschen in Deutschland erfüllen jährlich die Kriterien für eine Depression. Dennoch wird die Diagnose in der hausärztlichen Praxis oft erst spät gestellt. „Meistens stellen sich Betroffene mit allgemeinen Erschöpfungssymptomen, Schlafstörungen, aber auch Schmerzen, vor allem Rückenschmerzen, vor“, erklärt Dr. Michelle Hildebrandt, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Buchautorin sowie Expertin in der aktuellen Folge des Podcasts „O-Ton Allgemeinmedizin“. Die klassischen Kernsymptome Niedergeschlagenheit, Antriebsminderung und Interessenverlust sind also oft gar nicht der erste Hinweis. Findet sich für Schmerzen keine Erklärung, lohne es sich, nachzufragen, was aktuell im Leben der Betroffenen los ist, rät die Expertin.
Die psychische Erkrankung betrifft alle Geschlechter, aber nicht in gleicher Weise. Bei Frauen werde eine Depression häufiger diagnostiziert, der Unterschied beliefe sich aber nur auf ein paar Prozentpunkte.
„Frauen neigen dazu, Dinge eher mit sich selbst auszumachen, zu grübeln und dann depressiv zu kompensieren“ sagt Dr. Hildebrandt. Männer dagegen richten Probleme eher nach außen und greifen häufiger zu Alkohol oder Drogen.
Neurologische Erkrankungen können Risikofaktoren sein
Depressionen treten selten isoliert auf. „Manche entwickeln aufgrund eines aktuellen Traumas eine Depression“, erklärt die Fachärztin. Auch neurologische Grunderkrankungen wie ADHS oder Autismus-Spektrum-Störungen sind relevante Risikofaktoren.
Oft zu wenig thematisiert: die Suizidalität. „Es ist ganz wichtig, das wirklich direkt anzusprechen“, mahnt die Expertin. Betroffene reagieren oft erleichtert und offen, wenn man sie darauf anspricht. Besonders wichtig ist die Frage, was die Person aktuell am Leben hält. Schwieriger wird es, wenn darauf eigentlich nichts kommt. Behandelnde sollten dann hellhörig werden.
Ist die Diagnose gestellt, stehen Hausärztinnen und Hausärzten mehrere Optionen offen. „Bei leichten Fällen hilft oft schon eine vorübergehende Krankschreibung kombiniert mit tagesstrukturierenden Maßnahmen“, empfiehlt Dr. Hildebrandt. Patientinnen und Patienten sollten täglich mindestens eine Aktivität einplanen. Medikamentös kann man zunächst mit Johanniskraut beginnen, es sollten jedoch rezeptpflichtige Präparate aus der Apotheke sein. Entsprechende Angebote von Drogeriemärkten reichen nicht aus.
Bei mittelgradigen Depressionen wird es komplexer. Hausärztinnen und Hausärzte können zur Psychotherapie überweisen, aber Wartezeiten von mehreren Monaten sind die Regel. Digitale Gesundheitsanwendungen seien eine sinnvolle Überbrückung, so die Expertin.
Einer Behandlung mit Cannabis steht sie kritisch gegenüber. „Cannabis kann Depressionen verstärken und Abhängigkeiten fördern“. Bei Schmerzzuständen oder der MS habe das grüne Kraut seine Berechtigung, bei vielen psychischen Störungen sei es kontraindiziert.
Eine besondere und atypische Form der Depression ist die hochfunktionale Depression. Leistungsorientierte Menschen, die sich v. a. durch Arbeit und Erfolg definieren, seien häufig betroffen, erklärt Dr. Hildebrandt. Nach außen wirken sie stabil, innerlich erleben sie jedoch massive Leere und Erschöpfung. Die Diagnose wird oft erst spät gestellt, weil die äußere Fassade lange hält.
Bei Kindern zeigt sich Depression oft anders: „Bauchschmerzen, Schlafprobleme oder Verhaltensauffälligkeiten sind häufige Warnsignale“, erklärt die Kollegin. Je jünger die Kinder, desto schwieriger sei es, die Depression als solche zu erkennen. Bei Jugendlichen kommen soziale Isolation oder exzessives Gaming hinzu. Medikamentöse Therapien spielen insgesamt eine deutlich geringere Rolle als bei Erwachsenen.
Quelle: Medical-Tribune-Bericht
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