Überversorgung durch gezieltere Diagnostik bei Gefäß- und Gerinnungserkrankungen vermeiden

Autor: Dr. Anne Benckendorff

Beim beschwerdefreien Patienten nach einer Karotisstenose zu suchen, macht laut den Experten keinen Sinn. Beim beschwerdefreien Patienten nach einer Karotisstenose zu suchen, macht laut den Experten keinen Sinn. © Science Photo Library/Maslo, Miriam

Zu viele Koronarinterventionen, zu viele Karotissonographien, zu viel Thrombophiliediagnostik. In Kardio- und Angiologie zählt Überversorgung quasi zum Alltag. Um sie zu vermeiden, müsste man sich nur strenger an die gesicherten Indikationen halten.

Herzkatheter

Zwei Drittel aller intermediären  Koronarstenosen (40–70%ige Verengung) werden allein aufgrund des angiographischen Befundes interventionell versorgt. Jedoch reicht die optische Beurteilung bei einem chronischen Koronarsyndrom nicht aus, erinnern Professor Dr. Gerd Hasenfuß­ von der Universitätsmedizin Göttingen und Professor Dr. Sebastian Schellong vom Städtischen Klinikum Dresden. Bereits 2016 forderte die DGIM im Rahmen ihrer Klug-entscheiden-Initiative, auf Dilatation und Stent zu verzichten, wenn keine myokardiale Ischämie bzw. keine hämodynamisch signifikante Stenose nachgewiesen wurde. 

Den Nachweis erbringt z.B. die Messung der fraktionellen Flussreserve (FFR). Welche prognostische und klinische Bedeutung diese Untersuchung hat, verdeutlicht eine Analyse kanadischer Registerdaten eindrucksvoll. Bei 2693 von 9106 Patienten mit vorwiegend stabiler KHK zeigte sich mittels FFR-Messung eine relevante Stenose, 75 % von ihnen erhielten eine Intervention. Dadurch trat der primäre Endpunkt (Tod, Hospitalisierung, Notfallrevaskularisierung) um 35–53 % seltener ein. Wurde dagegen eine nicht-relevante Verengung interventionell versorgt – was immerhin bei jedem Achten der Fall war –, stieg die Komplikationsrate gegenüber der konservativen Behandlung deutlich an, und zwar um 37–110 %.

Ultraschall der Halsgefäße

Mitunter warten Patienten hierzulande auf einen Termin zur Duplexsonographie der Halsgefäße. Ein künstlich erzeugter Mangel, so die Autoren. Denn Schwindel und Synkope als häufigste Anforderungsgründe im Alltag stellen eigentlich keine Indikationen zum Karotisschall dar. Ersterer ist häufig phobisch, Letztere beruht auf einer globalen und nicht auf einer territorialen Min­der­durch­blu­tung. In beiden Fällen besteht kein Zusammenhang zu Veränderungen der hirnzuführenden Gefäße. Entsprechend kritisieren die Kollegen den Ressourcenverbrauch und die potenziell schädliche Übertherapie.

Nur eine Indikation rechtfertigt Sono

Auch das „Screening“ vor Herzoperationen oder bei symptomatischer Athero­sklerose anderer Gefäße bezeichnen die Experten als zweifelhaft (s. Kasten). Sogar in der Primärprävention könne man die Duplexsonographie aus der kardiovaskulären Risikoabschätzung streichen. Als einzige unstrittig gerechtfertigte Indikation nennen sie Ischämiesymptome stromabwärts der A. carotis interna:

  • Amaurosis fugax 
  • transitorische ischämische Attacke
  • Schlaganfall

Darüber hinaus sollten eine „drop attack“, der Verdacht auf eine Dissektion, lokale Veränderungen sowie Strömungsgeräusche eine Ultraschalldiagnostik nach sich ziehen. Grundsätzlich ergibt sich die Indikation erst im Verlauf: Die Befunde aus Anamnese, klinischer Untersuchung und Schnittbildgebung müssen die Ursachensuche rechtfertigen.

„Screening“ als Vorwand

Bei Patienten mit manifester Atherosklerose wird oft nach einer Karotisstenose gesucht. Das Screening fällt unter die sogenannte Umfelddiagnostik und gehört den Experten zufolge zu den zweifelhaften Indikationen für die Duplexsonographie. Es gebe keine überzeugende Evidenz dafür, dass die Detektion einer asymptomatischen Gefäßverengung (und die eventuell darauf folgende Revaskularisierung) einen Vorteil bietet. Dennoch erfolgen in Deutschland mehr als 70 % aller Karotiseingriffe bei beschwerdefreien Patienten. Im Nachbarland Dänemark sind es nahezu 0 % (!). Dieser Unterschied berührt Grundsatzfragen im Gesundheitssystem. Denn der ökonomische Wettbewerb schafft Indikationen zur Revaskularisierung. Prof. Hasenfuß und Prof. Schellong sehen für das „Screening“ aktuell nur einen Ausweg: Zusatzuntersuchungen und Indikationssprechstunden sollten spezielle neurologische Abteilungen übernehmen, wo ohne eigenes prozedurales Interesse Entscheidungen getroffen werden.

Thrombophiliediagnostik

Testen Sie keine Gesunden!, appellieren Prof. Hasenfuß und Prof. Schellong. Seltene Ausnahmen von dieser Regel­ bilden z.B. Frauen mit Kinderwunsch und positiver Familienanamnese. Die Beratung und Testung sollten aber von Anfang an hämostaseologische Spezialambulanzen übernehmen.  Ebenso brauchen die allermeisten Patienten mit Beinvenenthrombose oder Lungenembolie keine spezielle Diagnostik. Ein Blick auf die einzelnen Gerinnungsleiden macht klar, auf was und wann getestet werden sollte. Als schwache Thrombophilien gelten die heterozygoten Formen der Faktor-V-Leiden- und der Prothrombin-20210-Mutation. Sie kommen häufig vor und beeinflussen klinische Entscheidungen selten oder nie, er­klären die Autoren.  Die homozygoten Formen, die Compound-Thrombophilien sowie das Antiphospholipidantikörpersyndrom sind therapeutisch relevante starke Störungen. Letzteres manifestiert sich gehäuft in der dritten und vierten Lebensdekade und betrifft Frauen öfter als Männer. Hereditäre starke Thrombophilien zeichnen sich durch Thromboembolien in der ersten Lebenshälfte und eine positive Familienanamnese aus. Bei diesen Konstellationen bietet sich folglich eine Testung an. Darüber hinaus kann sie bei der Abklärung ungewöhnlicher klinischer Situationen (rezidivierende idiopathische Ereignisse, untypische Lokalisation) helfen.

Quelle: Hasenfuß G, Schellong S. Internist 2021; 62: 379-384; DOI: 10.1007/s00108-021-00982-6