Alte Hausärzte für die Versorgung immer wichtiger
Manchmal habe ich Senioren in der Sprechstunde sitzen, mit denen habe ich schon gespielt, als sie Kinder waren.“ Dr. Siegfried Stadelmayer ist 78 Jahre alt. Seit einem halben Jahrhundert arbeitet der kardiologisch orientierte Internist und Hausarzt im brandenburgischen Lübbenau. Für Hausbesuche stapft er notfalls in Gummistiefeln durch den Spreewald. Bis vor einem Jahr war der engagierte Senior im lokalen Versorgungszentrum angestellt. „Meine Arbeitgeberin wollte mich aber loswerden“, erzählt der Arzt. „Meine Arbeitszeit wurde erst auf 30 Stunden pro Woche reduziert, später auf 9. Am Ende wurde ich regelrecht hinausgeworfen.“ Verärgert über die Kündigung, machte er sich im Februar erstmals mit einer eigenen Praxis selbstständig. Geeignete Räume fand er in Lübbenau schnell.
Einige Hausärzte arbeiten noch mit über 80 Jahren
Auch viele andere Hausärzte legen das Stethoskop im Rentenalter nicht beiseite: Rund 15 % von ihnen sind älter als 65. In den letzten zehn Jahren ist dieser Anteil stetig gestiegen. Etwa 100 der Hausärzte sind sogar über 80. Auf das Engagement solcher älteren Mediziner ist das Gesundheitssystem immer stärker angewiesen. Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) werden 2030 rund 10 500 weniger Hausärzte als heute tätig sein, während die Nachfrage nach medizinischer Versorgung leicht steigen wird. Folglich wird sich der Mangel verschärfen.
In Lübbbenau fehlen jetzt schon viele Hausärzte, die Niederlassung in dem Ort wird gefördert. Für Dr. Stadelmayer ist es daher selbstverständlich, weiterzumachen: „Da muss man einfach wissen, warum man Arzt geworden ist“, betont er. Nicht nur seinen knapp 1000 Patienten fühlt er sich verbunden: Außerhalb der Sprechzeiten leistet er Bereitschaftsdienste und betreut eine Herzgruppe, die er schon 1975 gründete. Über 50 Stunden pro Woche arbeitet der Mediziner. Bürokratische Aufgaben, die in der Praxis anfallen, übernimmt seine Frau Renate Stadelmayer, Diplom-Pharmazie-Ingenieurin. Sie arbeitet aushilfsweise in einer Apotheke.
Die Zulassung des 78-Jährigen verlief problemlos. Hätte er vor elf Jahren erwogen, eine Praxis zu eröffnen, hätte man ihm jedoch gesagt, er sei zu alt dafür. Bis 2009 durften selbstständige Vertragsärzte nur bis zum 68. Lebensjahr arbeiten. Eine Praxis zu eröffnen, war bereits ab 55 Jahren tabu. Diese Grenze wurde in den 1990er-Jahren gezogen, weil es paradoxerweise zu viele Mediziner gab. Die ältere Generation sollte weichen, damit junge Ärzte nachrücken können. Das Bundesverfassungsgericht verteidigte die umstrittene Grenze 1998: Die Erfahrung zeige, dass die Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Alter oft abnehme. Ältere Mediziner könnten Patienten gefährden. Viele Ärzte empfanden diese Worte als Altersdiskriminierung. Erst als auf dem Land immer mehr Mediziner fehlten, schaffte die Politik die 68-Jahre-Regelung ab.
Politik verleidet längeres Arbeiten
Doch in hohem Alter weiterzuarbeiten, ist für Ärzte nicht unbedingt attraktiv. Dr. Andreas Gassen, der Vorsitzende der KBV, wirft der Politik vor, Mediziner mit „immer neuen kleinteiligen Regelungen“ zu drangsalieren. „Dies birgt die Gefahr, ältere, noch in der Versorgung tätige Ärzte früher als geplant in den Ruhestand zu bewegen und den dringend benötigten ärztlichen Nachwuchs in der ambulanten Versorgung nachhaltig zu verschrecken.“
Eine nicht-repräsentative Umfrage des Ärztenachrichtendienstes unter niedergelassenen Haus- und Fachärzten weist in eine ähnliche Richtung: 67 % der 2000 Befragten sind derzeit so unzufrieden, dass sie ihre Kassenzulassung gerne früher als geplant abgeben würden. Finanzielle Verpflichtungen wie etwa der Praxiskredit halten sie davon ab. Die Befragten gaben an, sich vom Gesetzgeber geringgeschätzt zu fühlen. Sie haben den Eindruck, es werde „in die Praxisorganisation hineinregiert“.
Auch Versicherungen erschweren es Medizinern, über das 65. Lebensjahr hinaus zu arbeiten. Bei den meisten Anbietern endet die Krankentagegeldversicherung mit diesem Alter. Eine Verlängerung ist in der Regel maximal bis zum 70. Lebensjahr möglich. Danach tragen Ärzte ihre Verluste selbst, wenn sie krank werden. Ein Medical-Tribune-Leser gibt seine Praxis nun mit 71 Jahren auf, weil er seiner Familie das finanzielle Risiko nicht zumuten möchte.
In Lübbenau hört Dr. Stadelmayer oft, wie vor allem ältere Menschen über die schlechte medizinische Situation klagen. Ihn empört es, dass die Politik nicht mehr tut, um die Versorgung auf dem Land zu sichern. „Das sind Dinge, die man nicht tolerieren kann, wenn man als Arzt auch nur halbwegs Verantwortung übernimmt“, erklärt der 78-Jährige. Im April schrieb er daher einen Brief an Barbara Klepsch, die Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz. Er wollte sie auf den Ärztemangel aufmerksam machen. Eine Antwort hat er bis heute nicht erhalten.
Ein Nachfolger wird die Praxis weiterführen
Eine Gefahr für seine Patienten ist Dr. Stadelmayer trotz seines hohen Alters nicht. Zuletzt besuchte er viermal so viele Fortbildungen wie er hätte belegen müssen. „Ich bin auf dem neuesten Stand der Erkenntnis“, bestätigt er. Der Mediziner will noch weitermachen, bis er 80 ist. Danach vertraut er seine Praxis und die Gesundheit der Lübbenauer guten Gewissens seinem Nachfolger an – den hat er schon gefunden.
Medical-Tribune-Bericht