Praxiskolumne Blaupause – oder immer weiter Utopie?

Kolumnen Autor: Dr. Nicolas Kahl

Der Digitalisierungsdruck von außen wird kommen. Noch bleibt Zeit, mitzugestalten. Der Digitalisierungsdruck von außen wird kommen. Noch bleibt Zeit, mitzugestalten. © mast3r – stock.adobe.com

Das Konzeptpapier des Hausärzteverbandes zur Digitalisierung spiegelt zur Überraschung unseres Kolumnisten die aktuelle Entwicklung wider. Warum stellen sich dann öffentlich so viele dagegen?

Die Delegiertenversammlung des Deutschen Hausärztetages hat am 6./7. Mai einen Leitantrag zur Digitalisierung der hausärztlichen Praxis verfasst. Dieses Konzeptpapier solle als „Blaupause“ für die weitergehende Digitalisierung der hausärztlichen Medizin angesehen werden.

Obwohl ich den Hausärzteverband sehr schätze und auch Mitglied bin, so muss ich doch gestehen, dass ich das Konzeptpapier durchaus skeptisch geöffnet habe. Aber: In knackiger Kürze habe ich in dem Papier viele Punkte gefunden, die eine sinnvolle Einbindung digitaler Tools in die hausärztliche Versorgung beschreiben. Daher habe ich nun „leider“ die Tonalität meiner aktuellen Kolumne kurzfristig geändert – aber man wird ja auch einmal etwas Positives schreiben dürfen.

Von der digitalen Online-Patienten-Ansprache über digitales Kontaktmanagement mit digitaler Stammdatenverwaltung bis hin zur elektronischen Patientenakte mit kompletter Interoperabilität aller Systeme und der Bereitstellung aller versorgungsrelevanten Daten werden viele Beispiele genannt, die eine Patientenversorgung effizienter, sicherer und eben „digitaler“ für alle Beteiligten gestalten können. Ergänzt werden soll die Patientenbehandlung durch Nutzung künstlicher Intelligenz in Diagnostik und Therapieentscheidung sowie durch eine durch Spracherkennung automatisierte Dokumentation mit automatisierter Abrechnung. Und eine digitalisierte VERAH soll eine digitale Anbindung der Hausbesuchspatienten ermöglichen und den Hausarzt digital zu den älteren Patienten „nach Hause“ bringen.

Bei einigen Punkten denke ich mir: „Aber das ist doch bereits das Ziel vieler TI-Projekte. Dann macht halt konstruktiv mit! “Bei anderen Punkten wiederum wünsche ich mir vor allem, dass solche Tools in Zusammenarbeit mit dem Hausärzteverband neu entwickelt werden würden. Denn als niedergelassener Allgemeinarzt vertraut man nun einmal auf das Label „approved by Hausärzteverband“, da man dann ein bedeutendes Maß an Datenschutzmaßnahmen, Usability und Pharmaunabhängigkeit erwartet. Ich müsste mir also nicht für jeden einzelnen Digitalisierungsschritt meiner Praxis eine eigene Lösung suchen, sondern könnte schauen: Was empfiehlt mein Berufsverband und welche PVS-Systeme ziehen mit und garantieren verlässliche Interoperabilität?

Wenn man dieses Papier liest, fragt man sich allerdings trotzdem:

  1. Wann soll diese Utopie des Haus­ärzteverbandes denn erreicht sein?
  2. Worauf warten wir aktuell noch?
  3. Warum arbeitet man an den aktuellen Entwicklungen nicht konstruktiv mit, sondern akzeptiert, dass sämtliche Modernisierungsschritte abgewehrt und blockiert werden?

Niemand behauptet, dass die aktuellen TI-Lösungen perfekt seien. Aber wenn man sich konsequent weigert, an der Weiterentwicklung mitzuwirken, dann werden die Systeme nicht besser. Noch haben wir die Chance, die Digitalisierung mitzugestalten. Wenn wir dieses Zeitfenster weiter verschlafen, dann wird der „Digitalisierungs-Druck“ von „außen“ über die Patienten und die Krankenkassen irgendwann so groß, dass Lösungen an den Ärzten vorbei entwickelt werden.

So gern ich auch über die Vertreter der KBV meinen Kopf schüttle, so offen muss ich zugeben, dass ich oft überrascht bin, welche progressiven Positionen der Deutsche Haus-ärzteverband und insbesondere „mein“ Bayerischer Landesverband unter Dr. Markus Beier immer wieder beziehen kann.

Ich frage mich aber auch: Sind solche Konzeptpapiere nur ein öffentliches Bekenntnis zur konstruktiven Mitgestaltung eines digitalisierten Gesundheitssystems? Wie ernsthaft wird man im Dialog mit den Mitgliedern die Notwendigkeit der Veränderung anmahnen und wie schätzt man im Verband die Unterstützung der Mitglieder für neue Wege ein? Und wann und wie wollt Ihr denn dort beim aktuellen Tempo jemals ankommen?

Denn eins ist doch klar: Viele Online-Plattformen sind mit ihren Tools bereits dort, wo der Hausärzteverband in der Utopie hin will – irgendwann. Viel Zeit bleibt also nicht mehr. Trotzdem: Das Konzeptpapier macht mir Hoffnung! Und die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.