Praxiskolumne Wider die Faktengier von Versicherungen

Kolumnen Autor: Dr. Frauke Gehring

Unsere Kolumnistin findet es erschreckend, wie Versicherungen auf das Verletzen der Schweigepflicht beharren. Unsere Kolumnistin findet es erschreckend, wie Versicherungen auf das Verletzen der Schweigepflicht beharren. © iStock/Sezeryadigar

„Wenn Sie das nicht ausfüllen, bekommt seine Witwe das Geld eben nicht“ Solch einen Satz schon mal in der Praxis gehört? In Gesprächen mit Versicherungen scheint der Datenschutz oft ausgehebelt.

„Wegen welcher Krankheiten und Gesundheitsstörungen haben Sie den Patienten in den letzten fünf Jahren behandelt?“ Wir alle kennen diese Fragen, die Krankenversicherungen stellen. Bei mir landete diese Frage, weil ein Patient eine Restschuldversicherung abgeschlossen hatte und plötzlich von einem rupturierten Aneurysma dahingerafft wurde.

Nachdem ich seufzend die Bögen gemustert hatte, die nach Selbsttötung und Vorgeschichte fragten, wuchs in mir der Widerstand. Was gingen diese Leute Hämorrhoiden und Nierensteine an? Was hatte der Magen-Darm-Infekt 2013 mit diesem tragischen Todesfall zu tun? Kurz entschlossen griff ich zum Telefon und rief die Versicherung an: „Warum wollen Sie das alles wissen?“, fragte ich bockig. „Der Patient hat eine Schweigepflichtsentbindung unterschrieben“, war die nicht ganz logische Antwort. „Wenn Sie das nicht ausfüllen, bekommt seine Witwe das Geld eben nicht“. Ich hörte ein „Basta“ dahinter, war mir aber nicht ganz sicher, ob es sich um eine akustische Halluzination gehandelt hatte. Noch blieb ich standhaft. „Ich hätte diese Schweigepflichtsentbindung gerne“, forderte ich und man versprach mir, sie zügig zu faxen. Das ist nun schon zwei Wochen her und ich kämpfe noch mit mir selbst: Soll ich zugunsten der Witwe nachhaken oder abwarten?

Eine andere Versicherung war noch gieriger. Es ging um eine Lebensversicherung und auch in diesem Fall war der Tod zu früh eingetreten. Man forderte schlicht einen Ausdruck der Patientenkartei der letzten fünf Jahre. Tolle Idee! Ich sah schon vor meinem geistigen Auge, wie die Sachbearbeiter sich über meine darin geäußerten Zweifel, ob der Patient Lust auf seinen Job hätte (er fragte einfach zu oft nach einer Krankschreibung), amüsierten. Ich sah sie Diagnosen googeln, die sie nicht zuordnen konnten, und interessiert verfolgen, wie sich die Ehekrise des armen Verstorbenen entwickelt hatte. „Niemals“, weigerte ich mich telefonisch, „kriegen Sie einen Ausdruck meiner Akte!“ In diesem Fall war ich erfolgreicher, denn mein Gesprächspartner lenkte sofort ein: „Okay, dann vielleicht nur die Dia­gnosen aus dieser Zeit?“. Das war okay, denn die waren bis auf die letzte, fatale, wirklich banal.

Aber nicht nur die Versicherungen haben einen ungeheuren Appetit auf medizinische Fakten. Ein junger Mann, glücklicherweise von einer schizoiden Psychose vollständig genesen, hatte nun einen 450-Euro-Job und leider wegen einer Operation drei Wochen gefehlt. Natürlich hatte ich ihn krankgeschrieben, aber das reichte seinem Chef nicht. „Können Sie mir für meinen Chef bitte eine Liste aller meiner Diagnosen mitgeben?“, bat mein Patient höflich. Es dauerte eine Weile, bis ich wieder frei atmen konnte. „Was will er?“, japste ich, „alle Diagnosen? Also auch über die Psychose, Ihre Infekte, den lästigen Durchfall damals und Ihren zu hohen Cholesterinspiegel? Das kommt überhaupt nicht infrage!“ Ich klärte ihn über die Schweigepflicht auf und erbot mich gleichzeitig, mit seinem Chef zu telefonieren, falls das nötig werden würde. Wurde es aber nicht.

Wahrscheinlich hat der sowieso eine Heidenwut auf mich, weil ich meinem Patienten nebenbei erklärt habe, dass er auch mit einem 450-Euro-Job Recht auf bezahlten Urlaub und bezahlte Krankheitstage hatte. Zumindest Ersterer wurde ihm bis dato verweigert, und es befriedigte mich tief, dass ich diesem Missbrauch ein Ende gesetzt habe.

Es ist erstaunlich, wie oft medizinischer Datenschutz ausgehebelt wird. Liebe Neugierige: Auch wenn die Welt voller Exhibitionisten ist, die Selfies auf Facebook posten und vielleicht sogar ihre Krankheiten lautstark in der U-Bahn diskutieren: Von mir kriegt ihr so wenig wie möglich. Wenn ihr medizinische Fakten mögt, schaut doch „Dr. House“. Dann lernt ihr sogar noch etwas.