Praxiskolumne Wer sich kümmert, wird bestraft

Kolumnen Autor: Dr. Günter Gerhardt

Patientinnen und Patienten sind oft überrascht, dass Hausärztinnen und Hausärzte den Papierkram in ihrer Freizeit und ohne Schreibbüro erledigen. Patientinnen und Patienten sind oft überrascht, dass Hausärztinnen und Hausärzte den Papierkram in ihrer Freizeit und ohne Schreibbüro erledigen. © iStock/cyano66; MT

Empfehlung, Antrag, Ablehnung, Begründung – unser Kolumnist mit einem Einblick in den Bürokratiewahnsinn seiner Arztpraxis.

Fragen Sie sich manchmal auch, um was Sie sich noch alles kümmern sollen? Ich meine: Trauen Sie sich noch, dem Patienten eine sinnvolle medizinische oder soziale Maßnahme zu empfehlen? Oder unterlassen Sie es, wohlwissend, dass einer solchen Empfehlung zeitaufwendige Patientenwünsche, Aufforderungen und Stellungnahmen folgen, die Ihnen nicht oder nur miserabel vergütet werden?

Denn so ist es doch: In der Regel flattert unseren Patienten nach der Beantragung einer Maßnahme erstmal ein in schönstem Beamtendeutsch formulierter, paragrafengespickter, ablehnender Bescheid ins Haus. Gegen den kann der Patient Widerspruch einlegen – nachdem er sich den Bescheid aber erst einmal in der Praxis hat erklären lassen müssen.

Oft fehlt dann in der Ablehnung die Begründung, die der Patient also erstmal beantragen muss, und zwar mit einem Formular, das er sich im Internet runterladen muss, ausfüllen, unterschreiben und auf dem Postweg z.B. zum Medizinischen Dienst befördern muss. Von dort wiederum geht dann dem Arzt ein mehrseitiges, mit noch mehr Paragrafen gespicktes und aus Textbausteinen zusammengesetztes „Gutachten“ zu.

Den notwendigen Ein-Satz-Widerspruch mit dem Vermerk „Begründung folgt“ hat der Patient meist schnell auf den Weg gebracht. Arzt oder Ärztin müssen dann aber die Begründung formulieren. Spätestens dann ist Vergütung übrigens so gar kein Thema mehr.

Mit der Begründung ist es aber oft noch nicht getan. Denn auch sie wird meist – mit noch mehr Paragrafen und Textbausteinen – abgelehnt. Manchmal landet das Ganze dann vor dem Sozialgericht, welches dem Arzt einen weiteren Fragenkatalog zuschickt. Allerdings kommt es oft gar nicht so weit. Weil nämlich die Patienten achselzuckend aufgeben: „Herr Doktor, lassen wir es doch, Sie haben ja wirklich alles Mögliche getan, danke!“

Die Abläufe mögen sich abhängig vom Adressaten unterscheiden (Krankenkasse, Medizinischer Dienst, Landes-/Versorgungsamt, Agentur für Arbeit, Deutsche Rentenversicherung und zunehmend auch Versicherungen, mit denen der Patient auf privater Ebene Verträge abgeschlossen hat) – das Prinzip ist überall mehr oder weniger das gleiche.

Kommen wir Niedergelassene mit dem Schriftverkehr an irgendeinem Punkt dieses Prozesses mal nicht mehr hinterher, wird dem Patienten mitgeteilt, dass „Ihr Arzt gesetzlich zur Abgabe eines Befundberichtes verpflichtet ist“ und er dafür ja auch ein Honorar bekommt. Besondere Freude kommt bei uns auf, wenn man uns mitteilt, welches Eingangsdatum man sich für die Beantwortung/Begründung vorgemerkt hat. Oft liegt es nur wenige Tage nach Eingang des Schreibens – manchmal sogar davor. 

Versuchen wir unseren Patienten zu erklären, wie die Realität für uns aussieht, sind sie immer wieder überrascht, dass wir diese Arbeiten in unserer Freizeit, abends bzw. meistens am Wochenende erledigen, uns kein Schreibbüro zur Verfügung steht und uns nur der erste Aufschlag des folgenden Rattenschwanzes vergütet wird.

Was ist die Folge einer solchen frustrierenden wie zunehmenden Bürokratie, die übrigens auch von angehenden oder sich in Weiterbildung befindlichen Medizinern registriert wird? Ärzte unterlassen es tunlichst, ihren Patienten Empfehlungen zu geben, die mit zeitaufwendiger Bürokratie verbunden sind.

Ein prägnantes Beispiel dafür ist zum Beispiel auch die Erwähnung vor dem Patienten, dass Medizinal Cannabis eine sinnvolle Behandlungsmöglichkeit für ihn sein könnte. Manche unserer Kolleginnen und Kollegen fürchten die Folgen einer solchen Empfehlung, die sie vielleicht nicht in der Lage wären zu stemmen, und verschreiben stattdessen lieber Opioide, NSAR, Antidepressiva, Benzos und Kortison in Höchstdosierungen. Und – und das ist meines Erachtens ganz fatal – unser Nachwuchs entscheidet sich gegen eine Niederlassung. Selbst wenn diese doch einmal fest einge­plant war.