Kommentar Der Mythos von der Immunschuld
An allen Ecken hustet und schnieft es. „Daran sind die Masken schuld!“, meint der eine oder andere Stammtischbesucher. „Das Immunsystem ist ja nicht mehr trainiert“, ergänzt der nächste. Die Coronaschutzmaßnahmen, so denken viele, hätten eine Art „Immunschuld“ bedingt. Der Körper müsse immer wieder mit Viren in Kontakt kommen, um diese abwehren zu können. Da das in den vergangenen Jahren nicht im gleichen Maße passiert ist wie in präpandemischen Zeiten, sei das Immunsystem nun geschwächt.
Diese Theorie wird nicht nur am Stammtisch der lokalen Eckkneipe diskutiert. Man hört sie beim Einkaufen, an der Bushaltestelle – selbst manche Ärzte propagieren sie. Und das ist gefährlich. Lässt sich daraus doch schließen, dass Infekte etwas Gutes für den Körper sind. So wie der regelmäßige Gang ins Fitnessstudio die Muskeln kräftigt, sollen Virusinfektionen das Immunsystem trainieren. Nur: So läuft es nicht. Ganz im Gegenteil.
Häufige Virusinfektionen sind nichts Positives! Und das gilt nicht nur für die akute Erkrankung. Von einigen ist bekannt, dass sie zu Folgeschäden führen können. Manche sind mit einer ganzen Reihe von Komplikationen assoziiert.
Der Kontakt mit viralen Erregern stärkt den Körper keineswegs. Jede Infektion birgt Risiken. Es ist also völlig in Ordnung, wenn man sich im vergangenen Winter erfolgreich vor einer Erkrankung geschützt hat. Zwar werden die spezifischen Antikörper, die der Körper im Rahmen einer Infektion bildet, nach einer Weile wieder abgebaut. Die Gedächtniszellen bleiben aber lange erhalten – jederzeit bereit, im Falle einer Ansteckung die Bildung von Antikörpern zu triggern.
Dass es derzeit mehr Menschen mit Erkältungssymptomen gibt, liegt vermutlich u.a. daran, dass viele aufgrund der Infektionspause in der vergangenen Saison weniger Antikörper haben. Kommt es nun zum Viruskontakt, dauert es etwas länger, bis wieder genügend Antikörper gebildet werden. Eine weitere mögliche Ursache: Die meisten Menschen haben ihre Schutzmasken inzwischen eingemottet und treffen sich nur allzu gerne wieder in Gruppen. Stichwort Stammtisch.
Kathrin Strobel
Redakteurin Medizin