Erdbeben in Türkei und Syrien Ein Hausarzt berichtet über die medizinische Grundversorgung im Erdbebengebiet

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Die Helfer:innen sind in Erdbebengebieten mit einem selbst gepackten Notfallrucksack ausgestattet. Die Helfer:innen sind in Erdbebengebieten mit einem selbst gepackten Notfallrucksack ausgestattet. © Adin – stock.adobe.com

Am 6. Februar erschütterte ein starkes Erdbeben die Türkei und Syrien. Weitere schwere Erdbeben folgten. Mehr als 50.000 Tote sind zu beklagen, zehntausende Menschen sind verletzt. Es gibt Hilfen, aber auch viele Probleme. Dr. ­Michael Brinkmann, Hausarzt in Niederkassel bei Bonn, berichtet über seinen Aufenthalt in der Türkei.

Herr Dr. Brinkmann, Sie waren von Mitte bis Ende Februar wieder mit einem Team der Hilfsorganisation Humedica im Einsatz. Wie geht es Ihnen?

Dr. Michael Brinkmann: Insgesamt geht es mir gut. Der Praxisalltag fordert mich wieder unmittelbar. Es gibt immer etwas nachzuarbeiten. Mit meinem Einsatzteam habe ich noch sehr engen Kontakt, um einzelne Dinge noch einmal gemeinsam durchzusprechen. Und natürlich fragen auch viele Patientinnen und Patienten, was wir erlebt haben.

Sie waren schon öfter bei Erdbeben im Einsatz. Die Nachbeben sind sicher belastend.

Ich war nach den schweren Erdbeben in den Bergen Pakistans, Nepals und auch in Haiti im Einsatz. Nach einem Erdbeben muss die Hilfe sehr schnell das betroffene Gebiet erreichen, trotz des Risikos weiterer schwerer Erschütterungen. In der Türkei gab es ca. 9.000 Nachbeben und viele haben uns wiederholt „erschüttert“. Im doppelten Sinne.

Was bedeutet das für Ihre Arbeit vor Ort?

Wir waren circa 100 Kilometer nördlich von Gaziantep eingesetzt. Gearbeitet haben wir im Zelt, dies ist eine Grundvoraussetzung in Erdbebengebieten mit zerstörter Infrastruktur. Im Zelt lässt es sich gut und sicher arbeiten, da keine akute Gefahr von herabstürzenden Gebäudeteilen besteht. Aber die Grundangst der betroffenen Menschen ist enorm groß. Dies ist unmittelbar spürbar, weil sie bei Erschütterungen oft panisch aufspringen oder sich unter der Liege verstecken. Die Menschen erleben bei jedem Nachbeben eine Retraumatisierung. 

Hatten Sie Angst? Wie schützen Sie sich als Helfer?

Wir Helfer sind in Erdbebengebieten mit einem selbst gepackten Notfallrucksack ausgestattet: Helm, Stirnlampe, ein Liter Trinkwasser, ein paar Müsliriegel, wärmende Wäsche. Und mit einer Trillerpfeife, falls es zu einer Verschüttung kommen sollte – damit zumindest die Möglichkeit besteht, sich bemerkbar zu machen. Der Einsatzort Pazarcik liegt unmittelbar am Epizentrum. In der ersten Woche herrschten zudem Tageshöchsttemperaturen von -5 Grad. Nachts waren es 10–12 Grad minus. Nach gemeinsamer Überlegung mit einem Sicherheitsberater unserer Organisation haben wir uns dann entschieden, in einem Hotel mit bestimmten Sicherheitsvorgaben zu übernachten: erster Stock, maximal frei zugänglicher Notausgang und sorgfältige Prüfung der Bausubstanz im Vorfeld, soweit möglich.

Aber so richtig sicher fühlt man sich trotzdem nicht, oder?

Nein, wir haben bei sehr starken Erschütterungen auch nachts mit Rucksack, so wie wir gerade angezogen waren, zügig das Gebäude verlassen.  

Sie kamen am 21. Februar an, als die meisten Rettungsstaffeln schon nicht mehr vor Ort waren.

Die Versorgung nach Erdbeben wird in Stufen eingeteilt. Stufe 1 startet unmittelbar, möglichst innerhalb von 24 Stunden nach dem Ereignis. Das bedeutet primär Search & Rescue, bei dem Organisationen mit Hundestaffeln und Notfallmedizinern vor Ort sind. Dann wird überlappend die Phase 2 von der WHO eingeleitet. Dabei werden Teams für die weitere medizinische Versorgung  bestimmten Regionen zugeteilt: Das bedeutet neben der Nachbetreuung von Verletzten und unmittelbaren Opfern auch die hausärztliche Versorgung als Basic Health Care.

Mit welchem medizinischen Bedarf wurden Sie konfrontiert?

Die Menschen im Erdbebengebiet leben zurzeit in Zelten eng aufeinander, zehn bis 12 Personen pro Zelt. Anfangs gab es keine Heizungen im Zelt, sodass viele Infekte der oberen Luftwege und Kinder mit Pneumonien und spastischen Bronchitiden vorgestellt wurden. Auch die Wundinfektionen und -behandlungen  nach chirurgischer Primärversorgung waren notwendig. In Erinnerung geblieben ist mir ein älterer Herr, der kein Insulin mehr hatte und einen Blutzuckerwert über 500 mg/dl. Es musste eine Neueinstellung des Diabetes unter den gegebenen Möglichkeiten durchgeführt werden. Ein weiteres Problem: Der Mann hatte sich in seiner Not in der Kälte vor einen Holzofen gestellt und sich wegen bestehender diabetischer  Neuropathie an den Beinen zweit-bis drittgradige Verbrennungen an beiden Unterschenkeln zugezogen.Wiederholt wurden wir mit Scabies und Durchfallerkrankungen im Lager konfrontiert, als Folge der   Lebensumstände der Menschen in großer Enge. Die sanitären Anlagen waren anfangs auch nicht für die 6.000 Personen in Zelten ausgelegt.

In Entwicklungsländern fehlt es oft an einer Grundversorgung. Die Menschen wissen gar nicht, wie krank sie sind. Für Menschen in der Türkei sieht das sicher anders aus. Viele kommen schon mit Diagnosen und Medikamentenbedarf. 

Ja, genau. Der gute medizinische Standard und auch der Lebensstandard sind ein wesentlicher Unterschied gegenüber Einsätzen in Ländern, in denen ich bisher nach Erdbeben tätig war. Betroffen sind aktuell in der Türkei über 30 Millionen Menschen, vom hochgestellten Politiker, dem Chef einer Krankenhausverwaltung bis zur Hausfrau oder dem Erwerbslosen. Sie alle lebten bisher auf einem vergleichbaren Standard wie wir in Deutschland. Das alles wurde innerhalb weniger Minuten zerstört. Tiefe seelische Wunden sind bei fast jedem unserer Patientinnen und Patienten deutlich spürbar gewesen. Wir untersuchten einen jungen Mann mit Prellungen am Rücken und fragten, wie er aktuell zurechtkommt. Er hatte 18 Stunden unter Trümmern gelegen, neben ihm der tote Bruder.

Präsident bittet seine Bürger um Vergebung

Problemlos verliefen die Rettungseinsätze nicht. „Leider konnten wir in den ersten Tagen die gewünschte Aktivität in Adıyaman nicht durchführen. Aufgrund der Wetter- und Straßenverhältnisse konnten wir nicht vom ersten Tag an kommen. Dafür bitte ich Sie für die ersten Tage um Halal“, kommentierte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Kritik an seinem Krisenmanagement. Er bat „um ein Jahr“, um „die Wunden des Erdbebens zum Großteil“ zu heilen. „Wie jeder Sterbliche können auch wir Fehler, Mängel und Makel haben“, zitiert die Zeitung den Präsidenten, der sich am 14. Mai zur Wiederwahl stellen will. Viele Menschen hätten wohl gerettet werden können, wenn die staatliche Katastrophenschutzbehörde AFAD, das Militär und auch die Gendarmerie schneller reagiert hätten, schreibt die „Frankfurter Rundschau“. 

Wie viel an Medikamenten haben Sie dabei, um helfen zu können?

Wir haben nach internationalem WHO-Standard das „Medi-Kit“ dabei – 240 Kilogramm Medikamente als Basisausstattung für die Versorgung von circa 3.000 Menschen für 14 Tage. Wir haben z.B. kein Insulin dabei und wir können nicht das gesamte hausärztliche Medikamentenspektrum abdecken. Aber es gibt z.B. orale Antidiabetika, Antihypertensiva, Antibiotika und natürlich Analgetika neben Akut-i.v.-Medikation. Es ist wichtig, dass in der akuten Phase eine Primärversorgung ermöglicht wird, damit sich nicht noch vermeidbare Folgeschäden bei nicht ausreichend behandelten chronischen Erkrankungen entwickeln.   

Haben Sie die Möglichkeit, sich mit anderen Teams zu verständigen, falls mehr an Leistungen nötig ist? 

Wir kooperieren soweit wie möglich mit anderen Hilfsteams und suchen auch immer Kontakt zu noch arbeitenden lokalen Strukturen. In der Nähe von uns hatte eine englische Gruppe ein provisorisches Zelt-Krankenhaus aufgebaut, zu dem wir die Patienten mit Verbrennungen verlegen konnten. 

Wir wurden auch zu einem 47-jährigen Mann mit weit fortgeschrittener Krebserkrankung in palliativer Situation gerufen. Er lag jetzt im Zelt mit seinen beiden Kindern und seiner Frau sowie seiner Großmutter. Wir haben ihn täglich symptom­orientiert behandelt. Es war sehr bewegend, wie tapfer die Familie war. Eine Mitarbeiterin der WHO hat sich nach unserer Abreise um die weitere Versorgung gekümmert. Der Patient wird jetzt im eigenen Zelt von einem Team versorgt.

Wie verständigt man sich in einem Land, wenn man die Landessprache nicht beherrscht?

Wir arbeiten immer mit Dolmetscherinnen und Dolmetschern vor Ort zusammen, die uns in der Kommunikation helfen und unterstützen. Aber diese Helfer*innen sind selber betroffen! Uns hatte eine junge Studentin mit sehr guten  Englischkenntnissen geholfen. Nach einem Nachbeben meldete sie sich ab, weil das Haus der Familie jetzt auch nicht mehr bewohnbar war. So bekamen wir nochmal einen ganz persönlichen, direkten Einblick in das, was die Menschen jeden Tag dort aushalten und erleben müssen.

Medical-Tribune-Interview