Ich bin kein Urlaubsbüro für überlastete Mittzwanziger
Die Deutschen sind ein gestresstes Volk. Insbesondere die moderne Frau über 20 ächzt unter der Dreifachbelastung aus Job, Familie und Smartphone. So sitzen dann jede Woche mehrfach Patientinnen vor mir, die heulend folgende Sätze wie ein Mantra vor sich hin sprechen: „Ich halte das nicht mehr aus! Da gehe ich nicht mehr hin!“
Auf meine Frage hin, WAS sie denn nicht mehr aushalten und WO sie denn nicht mehr hingehen, können sie erstmal gar nicht antworten. Stattdessen versuchen sie, mit den Händen ihre Tränen wegzuwedeln, so wie sie es in amerikanischen Fernsehserien gesehen haben. Bis es schließlich schluchzend aus ihnen herausbricht: „Es ist so schlimm auf der Arbeit. Die Kolleginnen schneiden mich, die Chefin tut nichts dagegen.“ Oder „die Arbeit wird immer mehr und ist kaum zu schaffen.“ Nun fällt dabei Folgendes auf:
Erstens handelt es sich fast immer um Frauen, meist aus arbeitsbedingt zusammengestellten Frauenkollektiven. Hier offenbart sich eine typisch weibliche, jedoch zunehmend aggressive „Streitkultur“. Hinter dem Rücken wurde schon immer geredet – nun aber auch in sozialen Netzwerken mit dem Nebeneffekt der allgemeinen Zugänglichkeit. Der viertelstündliche Blick aufs Smartphone garantiert immer die neuesten Enttäuschungen.
Oder es wird gar nicht geredet. In Sachsen nennt man das „dickschen“. Die Person wird kalt gestellt, geschnitten. Warum es überhaupt zu dieser Opferrolle kommt (oft sind es auch immer dieselben Frauen), ist da noch ein ganz anderes Kapitel.Man mag mir einseitige Sichtweisen unterstellen, aber bei Männern gibt es so etwas weniger häufig. Und selbst wenn, dann fehlt den Herren schlicht die Neugier, ständig auf ein Smartphone zu starren, um sich die nächste Schmähung anzutun. „Jetzt leckt mich“ ist da eher die Reaktion.
Zweitens: Der Arzt soll zum Komplizen und Krankschreiber gemacht werden. Einerseits fordert die Patientin natürlich seine Parteinahme für sich ein, denn der Doktor hat ja geschworen, für sie da zu sein. In guten wie in schlechten Zeiten. Andererseits impliziert ihr Satz „Da gehe ich nicht mehr hin!“ die Aufforderung, sie so lange arbeitsunfähig zu schreiben, bis der nächste mögliche Kündigungstermin erreicht ist.
Spätestens an dieser Stelle mag ich nicht mehr mitspielen. Ja, es ist meine Aufgabe, Menschen mit reaktiven depressiven Verstimmungen zuzuhören und ihnen zu helfen. Sei das alles nun durch Mobbing oder durch Überlastung entstanden. Und diese Zuwendung bekommen sie auch von mir und manchmal Psychopharmaka – zumindest bis der Schlaf wieder hergestellt ist. Selbstverständlich auch ein paar Tage Auszeit, wenn es erforderlich ist. Die „Hausaufgabe“ besteht dann in täglichen längeren Spaziergängen an frischer Luft, um den Kopf freizubekommen.
Aber zwangsweise zu einem Urlaubsbüro umfunktioniert zu werden, das passt mir gar nicht. Fast verzweifelt versuche ich, zu verhandeln: „Sie sind also gekündigt worden (oder haben gekündigt) und wollen allen Ernstes jetzt fast drei Monate krankgeschrieben werden? Ich verstehe nicht, warum man trotz Kündigung nicht in Würde seinen Vertrag zu Ende bringen kann.“
Meistens hat es keinen Sinn. Die Arbeitsunfähigkeit ist bei der Patientin beschlossene Sache. Und in unseren Breiten eine psychologische Mitbehandlung innerhalb so kurzer Zeit zu bekommen, grenzt an ein Wunder. Sie wird pünktlich alle zwei Wochen hier aufkreuzen, mir erzählen, dass nichts besser geworden ist und ihren gelben Zettel einfordern.
Was soll ich als Arzt machen? Wenn es wirklich Mobbing ist, muss ich diesen pathogenen Faktor von ihr fernhalten. Aber oft scheint es eben auch nicht so zu sein. Zurzeit habe ich wieder mehrere derartige Patientinnen. Dann denke ich morgens manchmal: „Praxis? Nööö, da gehe ich nicht mehr hin!“