Ich hasse Arbeiten unter Zeitdruck

Kolumnen Autor: Dr. Frauke Höllering

Arbeiten unter Zeitdruck führt ungewollt zu Fehlern! Arbeiten unter Zeitdruck führt ungewollt zu Fehlern! © thinkstock

Das Thema in unserer Praxiskolumne: Das Arbeiten unter Zeitdruck in der Hausarztpraxis.

Seufzend ließ sich die ältere Dame in die Lehne des Besuchersessels sinken: "Frau Doktor, ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll, es hat sich so viel angesammelt!" Endlich hatte sie es geschafft: Nach einer guten Stunde Wartezeit war sie aufgerufen worden aus einem Heer verschnupfter und vergrippter Mitmenschen.

Ein schneller Seitenblick auf den Kalender zeigte mir, was ich schon erwartet hatte. Diese Patientin hatte keinen Termin, sondern sich mit der Klage akuter Beschwerden ins Wartezimmer setzen lassen. Schon fuhr sie fort: "Ich habe immer mal wieder Kopfschmerzen und auch das Gefühl, dass meine Beine dick sind. Auch schlafe ich nicht mehr so gut. Kann das am Alter liegen? Ich würde gerne meinen Blutdruck messen lassen und …" Hier unterbrach ich sie mit zuckersüßer Stimme: "Leider haben sie keinen Termin", bedauerte ich, "darum können wir uns heute nur auf das Wichtigste beschränken. Sie verstehen das sicher, an einem Montagmorgen in der Erkältungszeit ist es immer etwas eng."

»Kein Termin – also beschränken Sie sich auf das Wichtigste!«

Doch meine Bitte um Nachsicht stieß auf taube Ohren: "Jetzt habe ich so lange gewartet, und dann wollen sie mich nach ein paar Minuten schon wieder loswerden?", protestierte die Patientin. Dass es akut Erkrankte, Fiebernde und Schmerzpatienten im Wartezimmer gab, die auf meine schnelle Hilfe hofften, war für ihr egozentrisches Weltbild unwichtig. Dass jeder ungefähr vier Stunden warten müsste, wenn ich jedem reichlich Zeit einräumen würde, erst recht.

So musste ich einen Balanceakt durchführen: Eine orientierende körperliche Untersuchung, eine Verabredung zur Blutentnahme, ein EKG und das Versprechen eines Extratermins sollten sie dahingehend besänftigen, dass sie sich nicht herauskomplimentiert fühlte. Dennoch war mir unwohl, als sie gegangen war: Vielleicht steckte doch ein beängstigendes Syndrom hinter ihren Beschwerden? Hatte ich in der Eile etwas Wichtiges übersehen?

Zwei Stunden zuvor war ein Patient in die Praxis zurückgekehrt und hatte meiner Mitarbeiterin seine Krankschreibung auf den Tresen gelegt: "Das bin ich gar nicht!" Tatsächlich hatte ich "seine" AU ausgefüllt, kurz nachdem ich mir das EKG einer anderen Patientin angeschaut hatte. Als ich mich dann wieder dem Papierkram zuwandte, war mir entfallen, dass auf dem PC-Bildschirm nicht die Akte meines Gegenübers zu sehen war. Zum Glück wohnte der Mann nicht weit entfernt, hatte meinen Fehler schnell bemerkt und mir obendrein verziehen.

Ich hasse Arbeiten unter Zeitdruck! Auch im größten Trubel will ich meinen Erkältungspatienten wenigstens in den Mund schauen und auf die Bronchien hören. Zwischendurch muss ich so viele Formulare ausfüllen, dass ich sie nicht so genau prüfen kann, wie ich möchte. Wenn ich aus dem Sprechzimmer komme und einen Berg von Rezepten vor mir liegen habe, gebe ich diese nach der Unterschrift schon mal gerne an die vor der Theke Wartenden. "Das ist aber nicht meins!", habe ich mir auch schon mal sagen lassen müssen, wenn mir eines zwischen eine Großbestellung gerutscht ist. Schlimm genug! Was ist aber mit denen, die den Irrtum nicht aufklären und einfach mit dem Fremdrezept davonrauschen?

»Da rutscht auch mal ein Fremdrezept dazwischen«

Wie soll ich auf die Schnelle obendrein prüfen, ob Herr X schon wieder Protonenpumpenhemmer für seine ganze Schützengilde bestellt oder Frau Y meint, Bromazanil zu brauchen, obgleich ich ihr das vor knapp einer Woche schon widerwillig rezeptiert hatte? Da muss ich mich auf meine Arzthelferinnen verlassen, denen in der Hektik aber auch mal etwas durch die Lappen geht. Bei unklaren Fällen klebt in der Regel ein dickes Fragezeichen auf dem zu unterschreibenden Rezept, dann muss ich eben nochmal zum Computer huschen und nachsehen, ob alles seine Richtigkeit hat.

Darum ist mir Eile zuwider. Ich hechele mit hängender Zunge von Raum zu Raum, stürze zwischendurch zu Waschbecken und Desinfektionsmittelspender (manchmal versucht, das nicht jedes Mal zwischen zwei Patienten zu tun) und schaue hin und wieder sehnsüchtig zur Kaffeemaschine, deren Inhalt mich magisch anzieht, aber mir meistens erst viel später durch die Kehle rinnt. Aber auch solche hektischen Tage können ihre Glanzminuten haben: Wenn auf meinem Schreibtisch plötzlich "von selber" ein dampfender Kaffeebecher mit genau der richtigen Menge Milch darin steht, oder wenn ein Patient sagt: "Ich will Ihnen nur ganz schnell etwas zeigen, den Rest machen wir irgendwann später. Sie haben ja so viel zu tun!"