Türkisches Wahllokal im Wartezimmer

Kolumnen Autor: Dr. Robert Oberpeilsteiner

Das Wartezimmer hat für Patienten eine wichtige Funktion. Das Wartezimmer hat für Patienten eine wichtige Funktion. © fotolia/Picture-Factory

Das Thema in unserer Praxiskolumne: die Funktion des Wartezimmers in Arztpraxen.

Vor zig Jahren besuchte mich ein ehemaliger Studienkollege in meiner Praxis. Er hatte sich ebenfalls gerade als Allgemeinarzt niedergelassen. "Sag mal," sagte er, "wie läuft das bei dir eigentlich so ab, wenn ein Patient reinkommt? Wie verhältst du dich? Wie begrüßt du ihn zum Beispiel?" Es war nach der Sprechstunde. Wir beschlossen wechselseitig Doktor und Patient zu spielen. War eine große Gaudi! Gut, dass uns niemand gesehen hat, damals. Sonst wären wir vermutlich heute noch in der Psychiatrie.

Ein wesentlicher Unterschied der Begrüßungsrituale ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Während bei meinem Kollegen die Patienten von Assistentinnen in einen Behandlungsraum gebeten werden, hole ich sie persönlich im Wartezimmer ab. Ich mache das gerne. So habe ich zwar eine Affinität zum Wartezimmer. Aber zugleich werde ich mit ihm einfach nicht warm. Einerseits sollte jeder Stuhl besetzt sein, als Beweis dafür, wie tüchtig der Doktor werkelt.

Es sollte andererseits aber möglichst leer sein, weil niemand gerne wartet. Außerdem nervt der Name. Viele Kollegen haben das Wartezimmer bereits abgeschafft. (Ich weiß nicht wie das geht, aber vermutlich stehen überzählige Patienten da auf dem Flur herum – "Entschuldigung, darf ich mal durch?" – oder trinken in der Praxisküche einen Cappuccino nach dem andern, bis sie dran kommen.)

»Ich dachte, das Wartezimmer sei ein Ort der Kontemplation«

Was also soll ich anfangen mit diesem quadratmeterfressenden Unding? Ich hatte ebenfalls schon daran gedacht, es wegzurationalisieren. Doch dann überkam mich immer eine gewisse oblomowsche Schwermut. Und so waren es letztlich meine Bequemlichkeit und der Unwille zu Veränderungen, die mich immer wieder zurückzucken ließen. Außerdem hat das Wartezimmer für Patienten eine wichtige Funktion: Da kann man sich schließlich entspannt noch letzte Notizen machen für die Konfrontation mit dem Doktor.

Und es sei ein Ort der Kontemplation, so dachte ich bisher wenigs­tens. Daher wunderte ich mich, als es kürzlich bei uns laut wurde. Ich kannte die Stimme des älteren Herrn. Beim letzten Mal war sie noch heiser. Jetzt klang sie erstaunlich kräftig. Offenbar hatte das Antibiotikum bereits gewirkt, das ich verordnet hatte. "Und der will bei uns wählen lassen, bei ihm in der Türkei dürfen die Ausländer das nicht", sagte er gerade.

Es schien eine ziemliche Diskussion in Gang zu sein. Nix mit Kontemplation. Doch die Ruhestörung brachte mich jetzt auf eine Idee: Früher einmal war das Wartezimmer ein politikfreier Raum. Ich hatte darauf geachtet, ausgewählt neutrale Zeitschriften auszulegen. Oh Gott, war ich korrekt und langweilig! Einmal hatte vor einer Gemeindewahl jemand einen Zettel mit Wahlreklame auf dem Tisch im Wartezimmer liegen lassen. Gab das eine Aufregung! Ob ich hier vielleicht politische Werbung machen möchte? Dabei wusste ich wieder einmal von gar nichts. (So wurde ich in diesem Fall zum Protestwähler!)

»Meine Praxis würde in den Fox-News auftauchen«

Jetzt aber könnte sich das ändern: Ich werde mein Wartezimmer zum Marktplatz für politische Auseinandersetzungen machen. Ich werde es bei der nächsten entsprechenden Abstimmung – falls es noch eine geben wird – als Wahllokal für türkische Mitbürger zur Verfügung stellen. Mal schaun wie das klappt! Das wär doch mal was für Talk Shows: Selam, großer Sultan, in deinem Palast in Ankara! Schau dir’s an! So verstehen sie Demokratie, die deutschen doktorlar!

Ja, das würde das Internet aufmischen. Meine Praxis würde als eine Art Goethe-Institut für deutsch-türkische Freundschaft selbst in den Fox-News auftauchen. Wobei ich eine Einschränkung machen muss: An der Anmeldung ist leider kein Platz für interkulturelle Feinheiten. Da sitzt seit zwanzig Jahren Mathilde, ein bayrisches Urgestein. Und diesen Platz gibt sie auch nicht freiwillig her. Für kein Kopftuch der Welt. Türkisch-deutsche Freundschaft hin oder her.