Nachhaltigkeit von Formuladiäten: „Gutes Essen ist Lebensqualität“

Interview Autor: Dr. Judith Besseling

Ernährungsmediziner Prof. Dr. Bojunga empfiehlt kohlenhydratreduzierte Kost, wie in der mediterranen Küche. Ernährungsmediziner Prof. Dr. Bojunga empfiehlt kohlenhydratreduzierte Kost, wie in der mediterranen Küche. © iStock.com/DeSid

Ob in der Drogeriekette, der Apotheke oder in speziellen Programmen: Formuladiäten sind eine beliebte Methode, um den langersehnten Erfolg beim Abnehmen zu erreichen. Aber ist so eine Diät wirklich zu empfehlen und ihr Effekt von Dauer? Darüber spricht Ernährungsmediziner Professor Dr. Jörg Bojunga im Interview.

Vor Kurzem wurde in der DiRECT-Studie gezeigt, dass eine Diät mit Nahrungsmittelersatz plus intensive Ernährungsschulungen bei Menschen mit Typ-2-Diabetes zu einer signifikanten Gewichtsreduktion und Dia­betesremission führen können. Was sind für Sie die wichtigsten Schlussfolgerungen?

Professor Dr. Jörg Bojunga: Die DiRECT-Studie zeigt klar das Potenzial, das Lebensstiländerungen für eine Dia­betesremission haben. 24 % der Patienten der Diätgruppe erreichten eine Gewichtsreduktion um mindestens 15 kg, dagegen kein Patient der Kontrollgruppe – insgesamt beeindrucken diese Daten an einem zugegebenermaßen kleinen Kollektiv. Die Tücke der Formuladiät ist allerdings, dass der Körper durch die sehr geringe Kalorienzufuhr von etwa 850 kcal/Tag seinen Grundumsatz herunterfährt. Wenn man dann wieder normal isst, speichert der Körper besonders viel Fett, um vorzusorgen für die nächste Hungerperiode – das ist der Jojo-Effekt. Wir versuchen eigentlich heutzutage die Ernährung umzustellen, ohne in diesen Hungerstoffwechsel zu kommen.

Von einem optionalen Nahrungsmittelersatz zur Gewichtsreduktion wird auch im ADA/EASD-Konsensuspapier gesprochen. Dieser wird jedoch nicht genauer definiert. Was versteht man darunter?

Prof. Bojunga: In der Tat ist die Zusammensetzung dieser Formuladiäten bisher nicht einheitlich definiert. Das Konsensuspapier nimmt aber explizit Bezug auf die DiRECT-Studie. Hier wurden täglich zwischen 825 und 853 kcal aufgenommen, verteilt auf 59 % Kohlenhydrate, 13 % Fett, 26 % Protein und 2 % Ballaststoffe. Die in Deutschland erhältlichen Produkte entsprechen in ihrer Nährstoffzusammensetzung meistens der Diätverordnung.*

Wie sieht die Studienlage zu Formuladiäten insgesamt aus?

Prof. Bojunga: Es gibt zahlreiche Studien zu Formuladiäten, was nicht nur ein Zeichen für das Problem ist, bei Adipositas eine dauerhafte Gewichtsreduktion zu erzielen, sondern auch für die kommerziellen Erwartungen der Hersteller solcher Brei- und Flüssigkosten. Aus den bisherigen Studien wird deutlich, dass man mit einer Formuladiät stark abnehmen kann – sehr stark sogar. Allerdings sind auch die Abbruchraten sehr hoch, was für eine geringe Akzeptanz der Patienten spricht. Der Name „Diät“ suggeriert per se, dass es sich um eine vorübergehende Änderung der Gewohnheiten handelt. Das ist aber falsch. Für eine nachhaltige Gewichtsreduktion braucht es die Einsicht des Betroffenen, dass ein reduziertes Körpergewicht nur durch eine dauerhafte Verhaltensänderung erreicht werden kann, nämlich eine an den Energiebedarf angepasste Nahrungsaufnahme.

Also ist ein nachhaltiger Effekt unwahrscheinlich?

Prof. Bojunga: Nachhaltigkeit, das heißt anhaltende Effekte über mindestens vier bis fünf Jahre, konnte bisher keine Studie zu Formuladiäten zeigen – auch nicht die DiRECT-Studie. Selbst unter optimalen Bedingungen nimmt in bisherigen Untersuchungen ein Großteil der Patienten innerhalb weniger Monate wieder deutlich zu. Irgendwann muss man die Ernährung wieder auf „natürliche“ Nahrungsmittel umstellen. Deshalb lautet mein Appell: Machen Sie es von Anfang an!

Gibt es Menschen, denen Sie grundsätzlich von der Diätform abraten würden?

Prof. Bojunga: Eindeutig ja. Bei schwangeren und stillenden Frauen, Kindern, Personen mit einem BMI < 25 kg/m2 und Patienten mit schweren akuten oder chronischen Erkrankungen sind solche Diäten grundsätzlich kontraindiziert. Als relative Kontraindikationen gelten ein Alter über 65 Jahre und unter 16–18 Jahre, ein BMI von 25–30 kg/m2, Typ-1-Diabetes, Cholelithiasis und Gicht. Auch bei Menschen mit vorbekannter Lebererkrankung sollte man vorsichtig sein, insbesondere bei einer Fettleber. Diese kann sich nämlich unter starker Kalorienreduktion signifikant verschlechtern.

Ist aber die Entscheidung für eine Formuladiät gefallen – würden Sie nur Programme oder auch die Diät in Eigenregie empfehlen?

Prof. Bojunga: Falls man sich für eine Formuladiät entscheidet, sollte dies unbedingt ärztlich überwacht werden. Der Gesetzgeber schreibt sogar vor, dass auf den Produkten der Hinweis „Darf ohne ärztlichen Rat nicht länger als drei Wochen verwendet werden“ zu finden sein muss. Und das nicht ohne Grund: Häufig treten Schwindel, Konzentrationsstörungen, Frieren, aber auch diffuse Alopezien und Konstipation auf. Bei rascher Gewichtsabnahme unter Reduktionsdiät steigt zudem das Risiko für Gallensteine signifikant an, sodass in der deutschen S3-Leitlinie „Diagnostik und Therapie von Gallensteinen“ die prophylaktische Einnahme von Ursodesoxycholsäure empfohlen wird. Die Vorstellung, eine industrielle Flüssig- oder Breikost mit einer weiteren Pharmakotherapie zu verbinden, erscheint mir aber geradezu widersinnig in Bezug auf das Ansinnen, eine essensbezogene Verhaltensstörung langfristig günstig unter Erhalt der Lebensqualität beeinflussen zu können.

Die Diät kann den Geldbeutel durchaus strapazieren. In welchen Fällen werden die Kosten von den Krankenkassen übernommen?

Prof. Bojunga: Ausgewählte Krankenkassen übernehmen einen Teil der Kosten für solch eine Formuladiät. Allerdings gibt es keine allgemeine Kostenübernahme und somit sollte man sich darauf nicht bedingungslos verlassen. Aus meiner Sicht sollte jeder für sich entscheiden, ob die Kosten nicht besser in natürliche, qualitativ hochwertige und unter angemessenen Bedingungen produzierte Nahrungsmittel investiert werden sollten. Denn ich bin überzeugt, dass auch die Wertschätzung von Nahrungsmitteln und eine bewusste Auswahl der Lebensmittel dazu beitragen kann, das Essverhalten zu verändern.

Was empfehlen Sie persönlich?

Prof. Bojunga: Zweifellos besteht eine familiäre Prädisposition zum Übergewicht, nur ganz selten liegt aber eine Krankheit zugrunde. Meist handelt es sich um eine Verhaltensstörung. Und die sollte man möglichst durch Prävention verhindern. Es wäre sinnvoll, dass Kinder und Jugendliche einen gesunden Umgang mit Lebensmitteln lernen. Aber auch schon in diesem Alter ist der Einfluss der Industrie groß. Wir wissen schon lange, dass es extrem schwer ist, sein Essverhalten zu verändern, wenn erst einmal ein Missverhältnis von Energieaufnahme und -verbrauch aufgetreten ist und die Geschmacksbildung und das Sättigungsgefühl gestört sind. Man kann Kindern aber auch ohne „Gesundheitsapostelei“ vernünftiges Essverhalten beibringen. Und das sollte man meiner Meinung nach mehr machen.

* Die Verordnung über diätetische Lebensmittel (Diätverordnung)

Die Kohlenhydrate reduzieren

Prof. Bojunga empfiehlt, die Ernährung für eine langfristige Gewichtsreduktion auf eine kohlenhydratreduzierte Kost umzustellen, wie in der sogenannten mediterranen Küche. Diese besteht zu etwa 40 % aus Kohlenhydraten. Reduziert man die Kohlenhydrate zu stark, so der Experte, leide schnell auch die Lebensqualität. Denn: Für viele Menschen ist die Ernährung dann nicht mehr geschmackvoll. Bevor man sich aber für eine Diät bzw. Ernährungsumstellung entscheidet, sollte man folgende drei Fragen beantworten:
  • Verstehe ich das?
  • Kann ich das?
  • Will ich das?
Nur wenn man diese Fragen bejahen kann, ist ein Erfolg realistisch, sagt Prof. Bojunga.