Die Bilanz der Ampel So bewerten Berufsverbände und Krankenkassen die Gesundheitspolitik der letzten drei Jahre
Welches der offenen gesundheitspolitischen Vorhaben der Ampel sollte Ihrer Meinung nach dringend noch umgesetzt werden?
Dr. Markus Beier, Hausärztinnen- und Hausärzteverband (HÄV): Für die Hausärztinnen und Hausärzte hat das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) oberste Priorität. Die Maßnahmen, allen voran die Entbudgetierung der hausärztlichen Leistungen und die Stärkung der Verträge zur Hausarztzentrierten Versorgung, müssen zwingend zeitnah umgesetzt werden. Ansonsten wird das unabsehbare Folgen für die Versorgung haben.
Christine Neumann-Grutzeck, Berufsverband Deutscher Internistinnen und Internisten (BDI): Das dringlichste Vorhaben ist die Entbudgetierung der Hausärzte. Diese Maßnahme wurde bereits im Koalitionsvertrag zugesichert und könnte ohne größeren legislativen Aufwand umgesetzt werden, da ähnliche Modelle bereits bei anderen Fachgruppen erfolgreich eingeführt wurden. Dies wäre deutlich effektiver als der Aufbau teurer Parallelstrukturen oder die flächendeckende Öffnung von Krankenhäusern für die vertragsärztliche Versorgung.
Mark Barjenbruch, KV Niedersachsen: Die Entbudgetierung. Es kann nicht angehen, dass medizinische Leistungen zum Teil unbezahlt bleiben. Und wir möchten noch etwas nennen, nämlich die Bagatellgrenze im Verordnungsbereich, die elementar wäre und nun nicht kommt, was die Ärzteschaft weiterhin mit der Gefahr von Regressen belastet.
Dr. Dirk Heinrich, Virchowbund: Kein vorliegender Gesetzentwurf ist unproblematisch. Auch wenn Teile gut sind, so enthalten sie auch Anteile, die mehr als problematisch sind. Wenn etwas schnell zu einer Verbesserung führen würde, wäre das die vollständige Entbudgetierung aller Niedergelassenen.
Dr. Carola Reimann, AOK-Bundesverband: De facto kann die Bundesregierung nichts mehr durchbringen. Die Krankenhausreform sollte aber nach Möglichkeit noch umgesetzt werden. Das hängt allerdings nun in erster Linie an den Bundesländern und der Abstimmung im Bundesrat. Das Notfallreformgesetz wäre – auch mit Blick auf Leerstellen und den Ergänzungsbedarf im KHVVG – noch verabschiedungswürdig.
Ulrike Elsner, Verband der Ersatzkassen: Wir halten die Reform der Notfallversorgung zusammen mit einer Reform des Rettungsdienstes für besonders dringlich, denn das aktuelle System hat massive Qualitätsdefizite und ist ineffizient. Der aktuell vorliegende Entwurf enthält mit den neuen Integrierten Notfallzentren, einer digital assistierten notdienstlichen Akutversorgung und der Zusammenlegung der Nummern 116117 und 112 wichtige Bausteine. Die Reform kann jedoch nur gelingen, wenn die Regelungen verbindlicher gestaltet werden. Beispielsweise sollte der G-BA einheitliche Qualitätsanforderungen für die Notfallrettung entwickeln.
Wie blicken Sie auf die gesundheitspolitische Gesamtleistung von Lauterbach?
Dr. Markus Beier, Hausärztinnen- und Hausärzteverband: Es gab zwar große Pläne und Ankündigungen, unter dem Strich ist aber de facto quasi nichts umgesetzt worden. Am Ende hat es sich gerächt, dass sehr lange kleinteilige Diskussionen innerhalb der Koalition geführt worden. Hätte man sich stattdessen weniger gestritten und mehr gehandelt, hätte man in den drei Jahren deutlich mehr umsetzen können. So blicken die Hausarztpraxen auf drei verlorene Jahre zurück. Das ist für dem Hintergrund der extrem angespannten Lage in den Praxen eine Katastrophe.
Christine Neumann-Grutzeck, BDI: Die gesundheitspolitische Bilanz der Ampelkoalition ist sehr enttäuschend. Fast keine der groß angekündigten Reformen wurde abgeschlossen. Dass der signifikanteste ‚Erfolg‘ des Gesundheitsministers die Legalisierung von Cannabis war, ist bezeichnend. Das spiegelt aber die fehlende Einbindung zentraler Akteure im Gesundheitswesen und die Ignoranz gegenüber fachlicher Expertise des Ministers wider. Letztendlich ist der Reformbedarf in den letzten drei Jahre dadurch angewachsen und weder die Versorgung der Patientinnen und Patienten hat sich verbessert, noch die Situation derer, die im Gesundheitswesen arbeiten.
Mark Barjenbruch, KV Niedersachsen: Minister Lauterbach hat zwar richtigerweise sehr viele Themen und Gesetze angeschoben, in vielen Fällen blieb es aber bei Ankündigungen, insofern gab es zu viel Gerede und zu wenig Ergebnisse. Um die Probleme bestmöglich zu lösen, hätten wir uns mehr echte Kooperation gewünscht. Der Berufsstand hat ja sehr konkrete Vorstellungen und den besten Einblick ins System.
Dr. Dirk Heinrich, Virchowbund: Wir sind froh, dass die Zeit mit der Ampelkoalition zu Ende geht, denn das waren für uns verlorene Jahre. Mehr noch: Es waren drei Jahre Dürre, Bashing und Missachtung – und für mich die drei schwierigsten drei Jahre meiner Zeit in der Berufspolitik. Die Koalitionsparteien konnten sich bei manchen Themen nicht einmal auf Minimalziele einigen. Unser Gesundheitswesen steht an einem Wendepunkt: Die Herausforderungen durch Demografie, Fachkräftemangel, medizinischen Fortschritt und nicht nachhaltige Finanzierung sind groß. Die Ampel hat aber alle Chancen vertan, die notwendigen und richtigen Entscheidungen für Strukturveränderungen einzuleiten.Auch der politische Austausch selbst war für uns außerordentlich frustrierend. Alle vorherigen Gesundheitsminister hatten zumindest ein offenes Ohr für unsere Belange und waren gesprächsbereit. Mit Karl Lauterbach war ein konstruktiver Austausch extrem schwierig. Die Anliegen, die Expertise, die Erfahrungen der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte stießen bei ihm fast permanent auf taube Ohren. Erst unsere Proteste Ende 2023 haben sein Ohr geöffnet. Allerdings ohne praktische Auswirkungen.
Dr. Carola Reimann, AOK-Bundesverband: Bei aller Ambition und Emsigkeit – am Ende wird wohl wenig übrigbleiben. Insbesondere das Management der vielen Verfahren hätte besser laufen können. Letztlich wurde zu viel nach hinten geschoben, so dass am Ende zu viele Reformbälle gleichzeitig in der Luft waren, die jetzt voraussichtlich allesamt herunterfallen. Die Bilanz Lauterbachs und der gesamten Ampelkoalition sähe sicherlich besser aus, wenn das Ampel-Aus ein, zwei Monate später gekommen wäre.
Ulrike Elsner, Verband der Ersatzkassen: Gut ist, dass Prof. Lauterbach viele Gesetzesvorhaben ambitioniert angegangen und dass ihm die Qualitätsorientierung der Versorgung besonders wichtig ist. Leider ist diese dann häufig auf der Strecke geblieben. So wurden bei der Krankenhausreform Zugeständnisse gemacht, die die ursprüngliche Fokussierung auf die Versorgungsqualität aufweichen. Ein besonderes Versäumnis ist, dass nach wie vor keine nachhaltigen Lösungen für die Finanzierungsfrage der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung auf den Weg gebracht wurden. Außer dem Griff in die Reserven der Krankenkassen und des Gesundheitsfonds und mehrfachen Beitragserhöhungen für die Versicherten und Arbeitnehmer fiel der Politik nichts ein. Mit dem kürzlich bekannt gegebenen Anstieg des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes 2025 um 0,8 Prozentpunkte auf den Rekordwert von 2,5 % erleben wir einen Beitragssprung wie seit fast 50 Jahren nicht mehr. Es ist dem Minister weder gelungen, ausgabendämpfende, noch beitragsstabilisierende Maßnahmen auf den Weg zu bringen.
Was waren für Sie besondere Merkmale der Gesundheitspolitik, aber auch des politischen Stils von Lauterbach?
Dr. Markus Beier, Hausärztinnen- und Hausärzteverband: Karl Lauterbach hatte zu jeder Zeit ein offenes Ohr für die Hausärztinnen und Hausärzte. Das steht außer Frage. Nur: Davon können sich die Praxen nichts kaufen. Zu häufig wurden große Pläne gemacht und angekündigt, zu selten wurde pragmatisch gehandelt. Gleichzeitig wurde viel Zeit mit Themen verbracht, die in der Prioritätenliste eigentlich weit hinten rangieren müssten. Bestes Beispiel ist das Gesunde-Herz-Gesetz, das quasi von allen Expertinnen und Experten abgelehnt wurde. So wurde Zeit und politisches Kapital verschwendet, das dann bei den wirklich wichtigen Themen gefehlt hat.
Dr. Carola Reimann, AOK-Bundesverband: Es gab viele Ankündigungen, aber am Ende mangelte es an zielführender Abstimmung mit den relevanten Akteuren und an solidem Handwerk. Auffällig war auch, dass am Anfang häufig die richtigen Analysen und Reformvorhaben standen, aber dass daraus zum Teil eigenwillige bis abwegige politische Lösungen abgeleitet wurden. Ein Beispiel dafür ist das Gesundes-Herz-Gesetz, das zahlreiche fragwürdige und nicht evidenzbasierte Maßnahmen enthält. Zudem gab es viele zentralistische Ansätze, statt die Stärken unseres selbstverwalteten, dezentralen Gesundheitssystems zu nutzen.
Ulrike Elsner, Verband der Ersatzkassen: Bedenklich ist, dass sich die Politik bei der Erfüllung staatlicher Aufgaben immer selbstverständlicher bei den Geldern der Beitragszahlenden der GKV und SPV bedient. Dazu gehört, dass der Bund nach wie vor den vollumfänglichen Ausgleich der Kosten schuldig bleibt, die der GKV für die Gesundheitsversorgung von Bürgergeldempfängerinnen und -Empfängern entstehen – wir sprechen hier von rund 10 Milliarden Euro Deckungslücke jährlich. Ähnlich bei der sozialen Pflegeversicherung – hier übernimmt die SPV die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige, obwohl das Aufgabe des Staates wäre. Der Gipfel ist, dass Prof. Lauterbach in seiner Amtszeit der GKV mit dem geplanten Transformationsfonds für die Krankenhausreform ab 2026 weitere 25 Milliarden Euro an Ausgaben aufbrummt. Mit dieser „Selbstbedienungsmentalität“ muss Schluss sein. Lauterbachs Politikstil ist zudem geprägt von der Philosophie „Der Staat kann es besser als die Selbstverwaltung“. Diese Verstaatlichungstendenzen zeigten sich in vielen Gesetzesvorhaben. Die Expertise der Selbstverwaltung muss bei den Gesetzgebungsverfahren wieder konsequent berücksichtigt werden.
Welches abgeschlossene gesundheitspolitische Reformvorhaben der Ampel war für Sie das bedeutsamste?
Christine Neumann-Grutzeck, BDI: Das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) ist trotz seiner Mängel und noch ausstehender Verabschiedung durch den Bundesrat, die alles andere als sicher ist, das bedeutsamste Projekt. Es setzt zwar falsche Schwerpunkte, aber die Notwendigkeit einer Struktur- und Finanzierungsreform im Krankenhauswesen ist unbestritten. Sollte es im Bundesrat scheitern, was wir aufgrund des dringenden Korrekturbedarfes begrüßen würden, muss eine Neufassung unter Einbeziehung der Ärzteschaft schnell erfolgen.
Mark Barkjenbruch, KV Niedersachsen: Von der angekündigten Gesetzesflut blieb am Ende nur wenig übrig. Mit Minister Lauterbach wird das Gesetz zum kontrollierten Umgang mit Cannabis in Erinnerung bleiben, eine zurecht sehr umstrittene Maßnahme, die aus gesundheitspolitischer Sicht unsinnig war und ist. Für manche Gruppen mag dies bedeutsam gewesen sein, nur es hätte sehr viele bedeutsamere Anliegen gegeben, die es wert gewesen wären, dass die Politik sie umsetzt.
Dr. Carola Reimann, AOK-Bundesverband: Wenn die Krankenhausreform scheitert, wird es das Digitalgesetz mit der Einführung der „ePA für alle“ sein.
Ulrike Elsner, Verband der Ersatzkassen: Das weitreichendste Vorhaben ist die Krankenhausreform. Darüber reden wir seit Jahrzehnten. Die Reform ist essenziell wichtig, auch wenn wir mehr gewollt hätten, vor allem verbindlichere Regeln und weniger Ausnahmen. Es kommt jetzt – sollten die Länder die Reform nicht noch blockieren – auf die Umsetzung an. Leider bringt die Krankenhausreform erhebliche Mehrkosten, die zu einem Großteil die Versicherten und Arbeitgeber der gesetzlichen Krankenversicherung tragen sollen. Hier fällt insbesondere der ab 2026 hinzukommende Transformationsfonds von 50 Milliarden Euro ins Gewicht, der hälftig aus GKV-Mitteln bezahlt werden soll. Der Umbau der Krankenhauslandschaft ist aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Ein gutes, vollständig abgeschlossenes Reformprojekt ist der Bundesregierung mit den Digitalisierungsgesetzen DigiG (Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens) und GDNG (Gesundheitsdatennutzungsgesetz) gelungen. Sie bringen dem Gesundheitswesen einen deutlichen Modernisierungsschub. Dazu trägt vor allem die Einführung der ePA für alle Versicherten und die damit verbundene Opt-out-Lösung bei, die eine flächendeckende Nutzung maßgeblich unterstützen wird.
Wenn sie nur drei Adjektive hätten, um die Gesundheitspolitik der letzten drei Jahre zu beschreiben, welche wären das?
Dr. Markus Beier: ergebnislos, stets bemüht, chaotisch.
Dr. Dirk Heinrich: erratisch, dirigistisch, anmaßend.
Dr. Carola Reimann: ambitioniert, eigenbrötlerisch, semi-erfolgreich.
Was ist ihre dringendste Forderung an die nächste Bundesregierung?
Dr. Markus Beier: Wir brauchen zwingend ein Programm zur Rettung der hausärztlichen Praxen. Wir erwarten, dass eine neue Bundesregierung das Thema ganz oben in das Gesundheitskapitel des nächsten Koalitionsvertrages schreibt und dann auch direkt umsetzt. Jedem muss klar sein: Wenn die hausärztliche Versorgung geschwächt wird, dann werden die weiteren Bereiche des Gesundheitswesens – von den Krankenhäusern bis zur ambulanten Pflege – wie Dominosteine fallen. Eine sofortige Stärkung, um diesem Einsturz zuvorzukommen, ist daher unerlässlich.
Christine Neumann-Grutzeck: Die nächste Bundesregierung muss die im Gesundheitswesen tätigen Akteure frühzeitig einbeziehen und die Versorgung gemeinsam gestalten. Ein Konsens ist dabei nicht immer erforderlich, jedoch ist es essenziell, die praktische Expertise zu berücksichtigen, um wirkungsvolle und praxistaugliche Gesetze zu schaffen. Zudem sollten wichtige, bereits begonnene Reformprojekte zügig und verbessert fortgeführt werden.
Mark Barjenbruch: Stärken Sie die ambulante Versorgung und die niedergelassenen Strukturen. Sie sind es, die die Masse der Versorgung der Bevölkerung tragen. Daher brauchen wir die Entbudgetierung – für Haus- und Fachärzte –, eine funktionierende Digitalisierung und keine Gängelungen wie unnötige Regresse.
Dr. Dirk Heinrich: Die Entbudgetierung durchzusetzen wird Aufgabe der nächsten Bundesregierung sein. Weitere Forderungen haben wir in unserem neuen „Grundsatzprogramm 2040“ formuliert. Dabei geht es uns vor allem um eine effektivere Patientensteuerung, u.a. über Eigenbeteiligungen des Patienten, sowie über eine neue koordinierenden Rollen- und Aufgabenverteilung zwischen Haus- und Fachärzten. Außerdem muss die Politik gegen den immer größeren Mangel an Ärzten und Fachkräften handeln. Mehr Medizinstudienplätze, Stärkung der ambulanten und hybriden Weiterbildung und bessere Gehälter für MFA sind nur einige Forderungen des Virchowbundes.
Dr. Carola Reimann, AOK-Bundesverband: Die GKV- und SPV-Finanzen nachhaltig zu stabilisieren. Dafür müssen Bund und Länder ihre Hausaufgaben machen und angemessen Finanzverantwortung übernehmen. Zudem braucht es wirksame Strukturreformen und mehr Handlungsfreiräume für Krankenkassen zur effektiven Versorgungssteuerung.
Ulrike Elsner, Verband der Ersatzkassen: Die dringlichste Aufgabe ist, die Finanzierung der GKV und SPV zukunftsfähig und nachhaltig auszurichten. Wir brauchen die Rückkehr zu einer einnahmeorientierten Ausgabenpolitik. Wie brauchen mehr Digitalisierung und Modernisierung in der Versorgung, wir müssen Strukturen neu ordnen und die Ambulantisierung vorantreiben. Und wir brauchen eine faire Lastenverteilung. Die Vorschläge dafür liegen auf dem Tisch. Die neue Bundesregierung hat es in der Hand, die Weichen für eine moderne, qualitätsorientierte und bezahlbare Gesundheitsversorgung zu stellen.
Quelle: Medical-Tribune-Interview