Triage bei Coronapatienten: Wer wird in der Not medizinisch aussortiert?

Gesundheitspolitik Autor: Michael Reischmann

„Hinsichtlich der Prognoseeinschätzung werden alle Menschen gleichbehandelt.“ „Hinsichtlich der Prognoseeinschätzung werden alle Menschen gleichbehandelt.“ © iStock/gmast3r

Nach welchen Kriterien sollen Ärzte, z.B. in einer kritischen Pandemielage, entscheiden, welchen Patienten geholfen wird zu überleben?

Die Vorgaben für eine Triage bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, meinen Menschen mit Behinderung. Neun von ihnen haben deshalb beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde erhoben. Autoren der kritisierten Triage-Empfehlungen plädieren ebenfalls für eine Klarstellung des Gesetzgebers. So lasse sich Rechtssicherheit für die Ärzte herstellen.

Im Frühjahr hatte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zusammen mit weiteren medizinischen Fachgesellschaften eine S1-Leitlinie zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit COVID-19 erarbeitet. „Ein solcher Leitfaden ist die Basis aller behandelnden Ärzte auf den Intensivstationen für eine medizinisch fundierte, gerechte Entscheidung“, erklärt Professor Dr. Uwe Janssens, Präsident von DIVI. „Kein Patient wird aufgrund von Alter, Grunderkrankung oder Behinderung von der Versorgung ausgeschlossen.“

Gesetzgeber soll sich zur Priorisierung klar äußern

Solche Versicherungen beruhigen allerdings einige Menschen mit Behinderung nicht. Sie haben Verfassungsbeschwerde eingereicht, berichtet die Plattform Abilitywatch, die das Vorhaben unterstützt. Die Fachgesellschaften würden sich in ihrer Triage-Leitlinie auf Kriterien zur Priorisierung beziehen, die zu einer „mittelbaren Diskriminierung“ führten, heißt es. So werde z.B. eine „Gebrechlichkeitsskala, herangezogen, nach der bereits das Kriterium eines Rollstuhl- oder Assistenzbedarfs dazu führt, dass der Betroffene herabgestuft wird“. Mit der Folge, dass für Ältere oder Menschen mit Behinderung Wahrscheinlichkeiten für den Behandlungserfolg errechnet würden, die dazu führen könnten, dass ihnen lebensrettende Maßnahmen vorenthalten werden. „Wir wissen aber und haben erlebt, wie häufig solche Prognosen falsch sein können.“

Die Verfassungsbeschwerde (Az.: 1 BvR 1541/20) wendet sich „gegen das Untätigbleiben des Gesetzgebers“. Wenn die Ressourcen nicht ausreichten, jeden lebensrettend zu versorgen, müsse dieser Kriterien entwickeln, wie mit der Knappheit umzugehen sei. Er dürfe das nicht einer privaten Fachgesellschaft überlassen. Eine Lösung, die Menschen mit Behinderungen in so einer Situation benachteilige, sei nicht verfassungsgemäß.

DIVI widerspricht in einer Pressemitteilung, dass es durch die Empfehlung zu einer pauschalen Schlechterstellung von Menschen mit einer Behinderung oder chronisch Kranken komme. Professor Dr. Jan Schildmann, Universitätsmedizin Halle (Saale), versichert: „Hinsichtlich der Prognoseeinschätzung werden alle Menschen gleichbehandelt: COVID-19-Erkankte wie Menschen nach Schlaganfall oder Verkehrsunfall, Menschen mit oder ohne Assistenzbedarf, von Demenz Betroffene und Nichtbetroffene, chronisch vorerkrankte Menschen und Menschen, die aus voller Gesundheit erkranken.“

Am Transplantationsgesetz orientieren

Der renommierte Rechtswissenschaftler und Leitlinien-Mitautor Professor Dr. Jochen Taupitz, Mannheim, unterstützt die Forderung nach einer Grundsatzentscheidung. Der Gesetzgeber könne sich dabei am Transplantationsgesetz orientieren und auf Regeln verweisen, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen – insbesondere Erfolgsaussicht und Dringlichkeit. DIVI-Präsident Prof. Janssens schließt daraus, dass „auch eine gesetzliche Regelung nicht ohne Rückgriff auf ärztliche Expertise auskommen kann“. Deshalb seien die Triage-Empfehlungen „derzeit unverzichtbar“.

Medical-Tribune-Bericht