Praxiskolumne Wir machen Primary Care und nicht bloß „Grundversorgung“

Kolumnen Autor: Prof. Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth

Viele Länder investieren inzwischen verhältnismäßig deutlich mehr in die Primärversorgung Deutschland. Viele Länder investieren inzwischen verhältnismäßig deutlich mehr in die Primärversorgung Deutschland. © ronstik – stock.adobe.com

Hausärztinnen und Hausärzte sind erste Ansprechpartner für alle Beratungsanlässe ihrer Patientinnen und Patienten. Nach 20 Jahren Praxis gibt es kaum etwas, was ich nicht schon gesehen hätte. 

Wir sehen Verletzungen durch Sport aber auch durch häusliche Gewalt, wir behandeln Hautausschläge oder ein akutes Koronarsyndrom. Kurzum: Wir wissen schlichtweg nie, was gerade zur Tür reinkommt. 

Die WHO hat alle Staaten schon 2008 eindringlich aufgefordert, die Orientierung ihrer Gesundheitssysteme stärker auf die gesundheitliche Primärversorgung auszurichten. International investieren viele Länder inzwischen verhältnismäßig deutlich mehr in Primary Care als dies in Deutschland der Fall ist. 

Dieses jahrelange Versäumnis hat dazu geführt, dass die Zahl der Hausärzt*innen, gemessen an der Gesamtzahl derer, die an der ambulanten Versorgung teilnehmen, nur noch ca. 30 % beträgt. Bei solch eindeutigen Zahlen müssten eigentlich alle Verantwortlichen in hektische Betriebsamkeit verfallen. Welche KV möchte schon eine Bankrotterklärung bezüglich der Sicherstellung im hausärztlichen Bereich anzeigen?  

Statt konsequenter Förderung und Orientierung auf die Primärversorgung wird viel von grundversorgenden Fachärzt*innen geredet. „Was soll das?“, frage ich mich. Ich kenne Diskussionen über Grundrente oder Grundsicherung – immer mit der Konnotation, hier handelt es sich um das absolute Minimum. Hausärzt*innen sind aber keine Ärzt*innen fürs absolute Minimum! Was auch immer sich die Verantwortlichen bei dem Begriff „grundversorgende Fachärzte“ gedacht haben mögen – die hausärztliche Versorgung kann nicht gemeint sein. 

An einem durchschnittlichen Vormittag führen wir Sonografien durch, bewerten EKG, nähen Platzwunden, diagnostizieren Hauterkrankungen, behandeln Augenerkrankungen oder chronische Schmerzpatient*innen. Dazwischen führen wir das Gespräch mit der Krebspatientin oder dem angstgestörten Studenten. Unser Behandlungsspektrum umfasst Primary Care und ist nicht ,,Grundversorgung“. Ja, wir machen auch Schnupfen, Husten, Heiserkeit, aber Primary Care ist eben viel mehr und unser Aufgabengebiet endet nicht hier, sondern ist hochkomplex. 

Es ist mitnichten so, dass Hausärzt*innen für einfache Erkrankungen und Fachärzt*innen für komplexere Erkrankungen zuständig sind. Der Unterschied ist vielmehr: Die Kompetenz der Gebietsfachärzt*innen ist auf ein erkranktes Organ oder eine Untersuchungsmethode fokussiert, wobei die Differenzialdiagnose nur den Organbefund absichern soll.

Hausärzt*innen dagegen arbeiten nicht organzentriert, sondern ganzheitlich. Wir bewerten Erkrankungen unter Berücksichtigung des gesamten Lebensumfeldes, der Komorbiditäten sowie der psychischen Situation unserer Patient*innen.

Es gibt also keine ,,grundversorgenden“ Hausärzt*innen und somit auch keine ,,grundversorgenden“ Fachärzt*innen und es sollte auch nicht versucht werden, mithilfe von absurden Wortkonstruktionen wie „grundversorgende Fachärzt*innen“ so zu tun, als ob die gebietsfachärztlichen Kolleg*innen auch heimlich halbe Hausärzt*innen wären.

Fachärzte nun immer mehr verbal dem hausärztlichen ,,grundversorgenden“ Bereich zuzuordnen, stellt vor diesem Hintergrund sogar eine Gefahr für die ganzheitliche Patientenversorgung dar und entspricht im übrigen auch nicht den Vorgaben der Bedarfsplanung. In dieser wird ganz klar unterschieden zwischen hausärztlicher Versorgung und allgemeiner fachärztlicher Versorgung sowie spezieller fachärztlicher Versorgung und besonderer fachärztlicher Versorgung. 

Eine stärkere Orientierung unseres Gesundheitssystem auf die Primärversorgungsebene und eine vollumfängliche Förderung des haus­ärztlichen Bereichs müssen jetzt Priorität haben. Dafür brauchen wir die Entbudgetierung (MGV+) der Hausärzt*innen, die Förderung der HZV sowie strukturelle Systemreformen wie Vorhaltepauschalen und die Umdefinition des Arzt-Patienten-Kontaktes. Alles überfällige Vorhaben, um die Rahmenbedingungen für hausärztliche Arbeit endlich wieder attraktiver zu machen.