Praxiskolumne Was zur Aufarbeitung der Pandemie dazugehört
In solchen Situationen muss ich tief durchatmen. Ich sehe mir den Patienten oder die Patientin gegenüber genau an und erinnere mich daran, in was für einem Umfeld er oder sie lebt, welchen Einflüssen (Boulevardzeitung, Stammtisch, Heilpraktiker, ...) sie ausgesetzt sind, wie die Vorbildung ist, aber auch was für ein liebevoller Opa oder welch eine freundliche Verkäuferin mein Gegenüber ist. Dann erwidere ich: „Ja, Sie haben recht: Wir wurden und werden fehlinformiert. Aber anders, als Sie denken.“
Der „Aufarbeitungsdiskurs der Pandemie“ ist genauso der „false balance“ anheimgefallen wie die „Aufklärung“ während der Pandemie (welche übrigens bis dato nicht von der WHO als beendet erklärt wurde). „Aufgearbeitet“ oder eher aufgehetzt wird unter anderem gegen „die Ärzte, die mitgemacht haben“, die im Rahmen der Gesetze gehandelt haben, die sich und andere schützten und impften.
Doch wer arbeitet auf, dass das medizinische Personal nicht mit dem Grundlegendsten an Schutzausrüstung versorgt war – und trotzdem handelte und nicht sicher im Homeoffice herumsaß. Viele aus dem medizinischen Bereich haben sich beruflich mit SARS-CoV-2 infiziert, nicht immer mit gewünschtem Ausgang.
Und wer arbeitet auf, wie viele Menschen gestorben sind, weil Regeln nicht befolgt wurden oder Schützendes nicht vorhanden war oder nicht angewendet wurde? Wer zieht diejenigen zur Rechenschaft, die nachgewiesenermaßen in den Medien Fake News verbreitet haben, z.B. mit Sprüchen wie: „Es wird keine nächste Welle geben!“
Ich hatte unter meinen Patienten einige COVID-Tote zu beklagen. Interessanterweise im Schnitt mehr, seitdem „COVID vorbei ist“ als während der ersten zwei Jahre. An die meisten erinnere ich mich gut. Sie sind nicht „eh schon im Sterbeprozess mit Corona gestorben“.
Wann reden wir über die Lebensqualität, die vielen geraubt wurde? Ich kann aus meiner täglichen Arbeit berichten, dass der Schrecken vor der Akuterkrankung tatsächlich weitgehend nicht mehr existiert, seitdem wir dank der Impfungen eine Grundimmunität erlangt haben. Aber „das Monster danach“, wie ein Buch über postvirale Infektionen heißt, sollten wir mit Respekt behandeln. Noch besser: Wir sollten uns davor schützen. Denn ich sehe die Long- und Post-COVID-, ME/CFS- und PostVac-Patient*innen.
Ich sehe, wie eine leichte SARS-CoV-2-Infektion die Mutter kleiner Kinder zu einem Pflegefall macht. Wie sie in die Erwerbsunfähigkeit rutscht und sich nicht mehr um ihre Kinder kümmern kann. Wie sie in einem dunklen Raum liegt, während das Leben an ihr vorbeirauscht. Und ich sehe den zuvor sportlichen Mann mittleren Alters, der dank einer aktivierenden Reha mit seinem ME/CFS soweit abstürzt, dass er zitternd vor Erschöpfung vor mir sitzt und neuerdings stottert. Wer bringt diesen Menschen ihr Leben zurück? Wer entschuldigt sich bei ihnen?
Sehr verwundert sind die „Aufarbeitsinteressenten“ im Sprechzimmer übrigens darüber, dass ich weiß, dass es Post-Vac gibt. Ich behandle diese Fälle sogar. Aber nicht jede Impfreaktion ist Post-Vac. Das echte Syndrom ist sehr selten im Vergleich zur Häufigkeit von Post-COVID. Genauso wie schwere Nebenwirkungen bei anderen Impfungen. Es sind Bruchteile im Vergleich zu den Massen, die ansonsten durch die Infektion chronisch erkranken würden.
Und warum reden wir nicht über die verpassten Chancen bei der Digitalisierung und bei den (Luft-)Hygienebedingungen an Schulen und im Gesundheitswesen? Das wären Investitionen gewesen, die uns allen zugutegekommen wären. Leider verpasste Chancen für Aufklärung und Wissenschaft. Deren Gegenspieler, der Aberglaube, treibt dagegen Blüten bis in hohe Kreise. Fakten, Ehrlichkeit, Offenheit, Ausgewogenheit, Wertschätzung von Leben – das wünsche ich mir von der Aufarbeitung der Pandemie.