Praxiskolumne Wir sind viel zu selten krank

Autor: Dr. Ulrike Koock

Ärzt:innen erlauben sich oft nicht, im Job zu fehlen. Ärzt:innen erlauben sich oft nicht, im Job zu fehlen. © wayhome.studio – stock.adobe.com

Neulich hätte ich eine für mich wichtige kardiologische Untersuchung gehabt, für die ich mir einen Tag freigenommen habe. Kurz bevor ich mich auf den Weg machen wollte, rief die Praxis an und sagte den Termin ab, weil die behandelnde Ärztin erkrankt war. 

Natürlich war ich etwas missmutig, schließlich habe ich einen Urlaubstag verbraucht. Aber gleichzeitig ermahnte mich mein moralischer Kompass: Das ist okay. Du warst auch schon krank und musstest Termine absagen lassen, auf die Patientinnen und Patienten lange gewartet haben. Ich sagte also: „Gute Besserung an die Kollegin, ich melde mich wegen eines neuen Termins.“

Eigentlich sind wir Ärztinnen und Ärzte doch viel zu selten krank. Wir erkranken meiner Beobachtung nach genau wie jeder andere auch, aber wir gestatten uns das Fehlen im Job nicht. Zu viel hängt an der eigenen Person – was aber gleichzeitig schon wieder eine sehr arrogante Aussage ist. 

Mein ehemaliger Oberarzt während meiner Assistenzzeit sagte dazu einmal: „Jeder ist ersetzbar.“ Das war nicht böse oder abwertend gemeint, vielmehr sollte es mich beruhigen. Weil ich durch mein damals kleines Kind mal wieder „kindkrank“ war und vor schlechtem Gewissen beinahe zerfloss.

Warum ist das so? Sehen wir uns als Krone der Schöpfung, ohne die es nicht funktioniert, das Gesundheitssystem zusammenbricht und Patientinnen und Patienten Not leiden? In gewisser Weise ist es wirklich ein Problem, wenn wir fehlen. Die Station ist unterversorgt und die Kolleginnen und Kollegen müssen unsere Arbeit übernehmen, die Praxis muss geschlossen und Termine müssen verschoben werden.

Gleichermaßen ist es ein Problem, wenn wir unseren Körper, unsere Warnsignale und unsere Gesundheit vernachlässigen und wir im dauernden Erschöpfungsmodus oder erkrankt arbeiten. Wann haben wir gelernt, innerhalb dieser Dysfunktion des Gesundheitswesens, das immer mehr zusammenbricht, zu funktionieren? War das im Studium, als wir Telefonbücher auswendig lernten, wie der alte blöde Witz so schön sagt, oder vor dem Physikum, weil das die entscheidende Prüfung auf dem Weg zum Arzt- und Ärztinnendasein ist? Oder im Praktischen Jahr, als man unbedingt beweisen wollte, dass man zäh und arbeitswillig, voller Teamgeist und Altruismus steckt? 

Vielleicht kam es auch erst mit den ersten richtigen Arbeitsjahren als Arzt/Ärztin in Weiterbildung, als man plötzlich 30 Personen alleine betreuen musste und die 24-Stunden-Dienste am Wochenende dir zeigten: „Mensch, du bist endlich Arzt! Du kannst das!“ Um am Folgetag wie verprügelt durch die Wohnung zu schleichen und (in meinem Fall) die Kinder irgendwie zu versorgen, weil sie auch Mama-Zeit haben wollen. 

Und nun, in der aktuellen Situation, in der Krankenhäuser schließen, Hausärzte ohne Nachfolger in Rente gehen, Patientinnen und Patienten ihre Behandlungen nicht mehr bekommen und Facharzttermine nur Monate im Voraus zu ergattern sind, da liegt die Last der Verantwortung auf den Schultern der wenigen Verbliebenen. Das macht auch krank. 

Darüber hinaus kann der ärztliche Präsentismus vulnerablen Personen gefährlich werden, z.B. wenn wir infektiös zur Arbeit gehen, sei es mit COVID-19, Norovirus oder Influenza, oder wir durch Fieber unkonzentriert sind. Natürlich muss nicht jeder Schnupfen eine Arbeitsunfähigkeit nach sich ziehen und leichte Kopfschmerzen lassen sich auch mit einem Medikament in den Griff kriegen. Doch ansteckende Krankheiten, ausgeprägtes Krankheitsgefühl, neu entdeckte schwere Erkrankungen oder auch psychische Symptome brauchen manchmal ihre Zeit. 

Aus eigener Erfahrung geschrieben: Vor acht Jahren wurde mir ein Defibrillator implantiert. Ich erholte mich kurz und ging nach drei Wochen wieder arbeiten. Das würde ich inzwischen auch anders handhaben.