Alltagsnutzen der Time in Range – nicht mehr nur eine Zahlenspielerei

diatec journal Prof. Dr. Lutz Heinemann

Auf dem ATTD wurde intensiv über den Nutzen der TiR diskutiert. Auf dem ATTD wurde intensiv über den Nutzen der TiR diskutiert. © iStock/Jodi Jacobson

Die Zeit im Glukosezielbereich wird mehr und mehr zu einem gängigen Parameter. Doch zu vielen Aspekten gibt es Fragen, die noch nicht abschließend geklärt sind. Debattiert wurde die Korrelation mit dem HbA1c und diabetischen Folgeerkrankungen. Zudem sorgen unterschiedliche Berechnungen der Hersteller für Unsicherheit.

Wie bei einem relativ neuen Parameter nicht anders zu erwarten, gab es im Rahmen der 13. International Conference on Advanced Technologies & Treatments for Diabetes (ATTD) einiges an neuen Daten und Diskussionen rund um die Zeit im Glukosezielbereich bzw. die Time in Range (TiR).

So wurde eine Subanalyse einer etwas älteren schwedischen Studie zur Nutzung von Systemen zum kontinuierlichen Glukosemonitoring (CGM) vorgestellt, in der 137 Patienten mit Dia­betes Typ 1 für sechs Monate entweder ein CGM-System (Dexcom G4®) oder Blutglukoseselbstmessung (BGSM) sowie eine konventionelle Insulintherapie nutzten.

Es wurde deutlich, wie schwierig es für Patienten mit einem HbA1c unter 7 % ist, so eine gute Glukosekontrolle zu erreichen und gleichzeitig die Zeit mit niedrigen Glukosewerten niedrig zu halten. Insgesamt betrachtet hatten bei der Studie nur 27 % der Teilnehmer einen HbA1c < 7 % erreicht. Bei diesen betrug die Zeit unter dem Glukosezielbereich (Time below Range [TbR]; < 70 mg/dl) 5,4 % – das Ziel nach ATTD-Konsensus liegt bei < 4 %.

Obwohl dieses Ziel nicht erreicht wurde, war die Situation deutlich besser als bei der konventionellen Blutglukosekontrolle: Hier lag die TbR bei 9,2 %. Einen guten HbA1c und wenig Zeit bei niedrigen Glukosewerten haben de facto wenige Studienteilnehmer erreicht, nur drei von 137 in der CGM-Gruppe und einer in der BGSM-Gruppe.

In einer Session zur Real-World-Evidenz ging Professor Dr. Irl Hirsch, UW Medicine Diabetes Institute an der University of Washington, auf die verfügbaren TiR-Daten ein. Die Ergebnisse der eher wenigen Studien ergeben: Bei Patienten mit Typ-1-Diabetes lag die TiR bei 51–65 % und bei 62–69 % bei jenen mit Typ-2-Diabetes. Dabei liegen die Variationskoeffizienten, als Beschreibung der Schwankungsgröße der Glukosewerte, bei 35–45 % bei Patienten mit Typ-1-Dia­betes und bei 29–30 % bei Typ-2-Diabetes. Unter Alltagsbedingungen gibt es also noch viel Raum für Verbesserungen.

Berechnet versus gemessen

Eine wichtige Frage ist: Wie vergleichbar sind die im Labor gemessenen HbA1c-Werte zu abgeschätzten HbA1c-Werten, wie sie z.B. beim Glucose Management Indicator (GMI) berechnet werden? Eine Analyse der Daten von 717 CGM-Nutzern aus der Klinik von Prof. Hirsch zeigte eine Abweichung von über 0,5 %-Punkten bei mehr als 50 % der Patienten, bei immerhin 22 % lag diese über 1 %-Punkt. Diese Diskrepanzen betrachtet er als sehr problematisch. Wenn CGM-Systeme immer mehr eingesetzt werden und die CGM-Daten immer mehr zur Berechnung von derartigen Parametern eingesetzt werden, kann dies die HbA1c-Messung in den Hintergrund drängen.

Professor Dr. Roy Beck, Jaeb Center for Health Research, Tampa, gab einen Überblick über die Beziehung zwischen TiR und verschiedenen diabetesbezogenen Komplikationen: Seiner Ansicht nach soll die TiR in Zukunft bei klinischen Studien eine größere Bedeutung erhalten. Bei einer vor einigen Jahren publizierten Analyse der DCCT-Studiendaten wurde die TiR auf Basis von sieben Glukosemesswerten pro Tag (ermittelt einmal im Quartal) berechnet: Eine 10 % niedrigere TiR ist demnach mit einer 64 % höheren Progressionsrate bei diabetischer Retinopathie assoziiert, bei der Mikroalbuminurie liegt das Risiko um 40 % höher.

Korrelation zwischen TiR und Folgeerkrankungen

In einer Studie mit Typ-2-Diabetespatienten wurde eine signifikante Beziehung zwischen TiR und Retinopathie beobachtet: Bei Patienten mit einer TiR > 86 % betrug die Prävalenz nur 3,5 %, bei einer TiR < 51 % betrug diese dagegen 9,7 %. Erwartet werden nun die Ergebnisse von Studien wie PERL (Preventing Early Renal Loss in Diabetes) und das „DRCR Retina Network Fenofibrate Protocol”, bei denen ein geblindetes CGM-System intermittierend über sechs Monate eingesetzt wird, um den Bezug von TiR und Nephropathie sowie Retinopathie zu untersuchen. Wenn die Evidenz für eine enge Beziehung zwischen vaskulären Komplikationen und CGM-Messungen besser wird, hat dies für die Zulassungsbehörden auch Relevanz hinsichtlich der Akzeptanz von TiR als Endpunkt in klinischen Studien. Nach Ansicht von Prof. Beck repräsentiert das HbA1c ein Surrogat-Maß für die vorherrschende mittlere Glukosekonzentration, dagegen misst das CGM den realen Glukoseverlauf. Er stellte die Frage: Braucht man wirklich immer noch das Surrogat-Maß?

Individuelle Glykierungsrate in Modell berücksichtigt

Eine wichtige Analyse zur Beziehung zwischen HbA1c und TiR präsentierte Professor Dr. Chiara Fabris, Center for Diabetes Technology, University of Virgina, Charlottesville. Die traditionell verwendeten linearen Modelle zur Korrelation von TiR- mit HbA1c-Werten liefern Korrelationskoeffizienten von 0,6–0,7. In einem neuen Modell wird ein personalisierter Parameter für die Glykierungsrate verwendet, die für jedes Individuum einzigartig ist. Mit anderen Worten, das Modell erfordert einen Satz von TiR- und Labor-HbA1c-Werten, die auf das jeweilige Individuum „kalibriert“ werden. Unter Verwendung des Datensatzes einer aktuellen Studie mit einem System zur automatisierten Insulinabgabe (AID-System) mit 120 Teilnehmern wurden drei feste Populationskonstanten berechnet, die für das Modell gebraucht werden. Basierend auf der individuellen variablen Glykierungsrate wurde für jeden Studienteilnehmer eine Schätzung des HbA1c für diese berechnet und mit dem HbA1c-Wert des Referenzlabors verglichen. Das Ergebnis dieser komplexen Prozedur ist eine beachtliche Verbesserung des Korrelationskoeffizienten zwischen den Ergebnissen der modellbasierten HbA1c-Werte und den im Labor gemessenen Werten auf 0,93. Dies führt im nächsten Schritt dazu, dass auch die Korrelation zwischen dem TiR und diesem berechneten HbA1c-Wert sich deutlich verbessert. Die Autoren dieses Beitrages sind wohl auch in Diskussionen mit der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA zur Bedeutung dieses Modells. Es bleibt abzuwarten, ob die FDA bei ihrer Präferenz des HbA1c-Wertes als Endpunkt für klinische Studien bleibt, auch wenn der Bezug zu TiR so viel enger ist. Dr. Guido Freckmann, Institut für Dia­betes-Technolgie GmbH an der Universität Ulm, wies in seinem provokanten Vortrag auf einige grundlegende Schwierigkeiten bei der Ermittlung des TiR hin, insbesondere auf die fehlende Standardisierung bei CGM-Systemen.

MARD-Wert ist nicht gleich MARD-Wert

Dabei gab es in den ersten Jahren der Verwendung der HbA1c-Messung ähnliche Probleme: Die Messergebnisse, die sich aus einer Methode ergaben, wichen beachtlich von denen einer anderen Methode ab. Es fehlt, wie es vor einer Reihe von Jahren für Blutglukosemesssysteme etabliert wurde, ein methodisch sauberer Ansatz, der es ermöglicht, die verschiedenen CGM-Systeme geeignet zu kalibrieren. So gibt es deutliche Abweichungen zwischen den Messergebnissen mit einem FreeStyle Libre im Vergleich zu einem CGM-System von Dexcom, insbesondere im niedrigen Glukosebereich. Dr. Freckmann beleuchtete weiterhin die Schwächen des Wertes zur Mean Absolute Relative Difference (MARD) – dieser wird vielfach zur Beschreibung der analytischen Messgüte von CGM-Systemen verwendet. Ein MARD-Wert < 10 % gilt als ­De-facto-Standard für CGM-Systeme, deren Messwerte ausreichend genau sind für therapeutische Entscheidungen. Dabei gibt es eine Reihe von Faktoren, die den MARD-Wert massiv beeinflussen, wie das Studiendesign und die Wahl der Studienpopulation. MARD-Werte müssen also mit Vorsicht betrachtet werden. Wohl auch deshalb verwendet die FDA keine Vorgabe hinsichtlich des MARD-Wertes bei ihrer iCGM-Einstufung. Auch bei den Vorschlägen einer Konsensus-Gruppe zur Nutzung von CGM-Parametern wird die analytische Genauigkeit der CGM-Systeme (ausgedrückt als MARD-Wert) nicht berücksichtigt. Macht dann die Vorgabe eines Zielwertes von < 4 % für die TbR < 70 mg/dl gemessen mit „irgendeinem“ CGM-System Sinn?

Kongressbericht: ATTD 2020

Falls Sie diesen Medizin Cartoon gerne für Ihr nicht-kommerzielles Projekt oder Ihre Arzt-Homepage nutzen möchten, ist dies möglich: Bitte nennen Sie hierzu jeweils als Copyright den Namen des jeweiligen Cartoonisten, sowie die „MedTriX GmbH“ als Quelle und verlinken Sie zu unserer Seite https://www.medical-tribune.de oder direkt zum Cartoon auf dieser Seite. Bei weiteren Fragen, melden Sie sich gerne bei uns (Kontakt).


Auf dem ATTD wurde intensiv über den Nutzen der TiR diskutiert. Auf dem ATTD wurde intensiv über den Nutzen der TiR diskutiert. © iStock/Jodi Jacobson