Auf die SPMS vorbereitet sein

Interview Manuela Arand

Die MS-Erkrankung der Patient:innen sollte immer im Blick behalten werden, um möglichst frühzeitig einschreiten zu können. Die MS-Erkrankung der Patient:innen sollte immer im Blick behalten werden, um möglichst frühzeitig einschreiten zu können. © iStock/mi-viri

Je länger eine schubförmige MS besteht, desto wahrscheinlicher wird es, dass sie in die sekundär progrediente Form übergeht. Um diese Entwicklung rechtzeitig erkennen und die Therapie anpassen zu können, ist ein regelmäßiges Monitoring der Patienten notwendig, betont PD Dr. Antonios Bayas von der Neurologischen Universitätsklinik Augsburg im Interview.

Wie lässt sich die sekundär progrediente MS (SPMS) definieren?

In der einheitlichen Definition liegt das Problem, es gibt bisher keine. Natürlich sind wir uns einig, dass die SPMS aus der schubförmig-remittierenden MS hervorgeht und durch eine schubunabhängige Behinderungsprogression über mehrere Monate gekennzeichnet ist. Der Zeitraum wird jedoch sehr unterschiedlich, oft zwischen drei und zwölf Monaten, angegeben. 

Die häufig genutzten Lorscheider-Kriterien sehen zum Beispiel eine Progression über mindestens drei Monate vor. Ich persönlich bevorzuge ein 6-Monats-Intervall, weil mir drei Monate zu kurz sind. Auch in einem anderen Punkt gehe ich mit der Lorscheider-Definition nicht konform: Nach ihr muss der pyramidale Score des EDSS mindestens 2 Punkte betragen und der EDSS insgesamt mindestens 4 Punkte. Meine persönliche Erfahrung ist, dass auch Patienten, die diese Kriterien nicht erfüllen, eine SPMS entwickeln können. 

Hat man denn keine vielversprechenden Biomarker?

Nein, leider nicht. Kein einziger Bio­marker zeigt zuverlässig, wann ein Patient eine SPMS entwickelt – auch kein experimenteller Marker. Keiner der Biomarker, die man im Alltag benutzt, wie MRT und in Einzelfällen auch Neurofilament light, kann den Übergang in die SPMS definieren. Sie bleibt eine klinische Diagnose, die retrospektiv zu stellen ist.

Gibt es einen Patiententypus, bei dem Sie vermuten, es könnte rasch zur Transition kommen?

So allgemein lässt sich das nicht sagen. Verstärkt darauf achten muss man bei Patienten, die im Krankheitsverlauf über eine allmähliche Mobilitätseinschränkung berichten. Und natürlich müssen wir bei Patienten, die schon lange erkrankt sind, besonders aufpassen. Es konnte gezeigt werden, dass bei unbehandelten Patienten nach fünfzehn Jahren Krankheitsdauer bei jedem zweiten Patienten und nach 30 Jahren bei zwei von drei die schubförmige in die SPMS übergeht. 

Ich lege großen Wert darauf, Patienten regelmäßig zu monitorieren. Das ist aufwendig – wir brauchen eine ausführliche Anamnese, oft unter Einbezug der Angehörigen. Die Progredienz muss an quantitativen Messwerten festgemacht werden. Oft sagen Patienten: Es wird schlechter und schlechter. Man untersucht und findet kein Äquivalent. Deshalb brauchen wir möglichst objektive Messwerte. Im klinischen Alltag nutzen wir z. B. die Gehstreckentestung

Vielversprechend finde ich die Möglichkeiten, die Smartwatches und Smartphones bieten. Die durch sie gewonnenen Bewegungsdaten liefern mehr als eine Momentaufnahme. Sie bilden den Alltag des Patienten ab und sind ein gutes Korrelat für zunehmende Behinderung und Einschränkung. Ich lasse mir von Patienten oft die Schrittzähler-Aufzeichnung der Smartwatch oder des Handys zeigen, um zu sehen, ob es Hinweise für eine Progredienz gibt. Auch regelmäßige kognitive Tests sind wichtig, denn die Verschlechterung der Kognition kann ein frühes Zeichen sein, dass sich eine chronische Progredienz 
anbahnt.

Wie wichtig ist es, die Diagnose früh zu stellen?

Sehr wichtig, denn nicht jede Medikation wirkt bei SPMS. Eigentlich haben nur Interferon beta-1b und Siponimod in den Studien gezeigt, dass sie bei SPMS einen Effekt haben. Es gibt aber zunehmend Medikamente mit einer Zulassung für die RMS mit oder ohne chronische Progredienz. Da müssen wir aufpassen, die Indikation nicht einfach auf die SPMS auszudehnen. 

Verliert der Patient etwas, wenn sich der Einsatz dieser Medikamente mit nachgewiesener Wirksamkeit bei SPMS verzögert?

Ja, eindeutig, und zwar bei der aktiven SPMS, d.h., wenn noch Schübe und/oder MRT-Aktivität nachweisbar ist. Die Chance, dass eine Therapie nutzt, ist umso größer, je stärker die entzündliche Aktivität noch ist. Liegt bereits eine SPMS ohne entzündliche Aktivität vor, können wir dem Patienten keine spezifische Behandlung mehr anbieten, die den Krankheitsverlauf effektiv beeinflusst. Von daher ist es wichtig, die Patienten in der frühen SPMS-Phase zu erwischen. 

Wie reagieren Patienten, wenn Sie ihnen sagen, jetzt haben sie das Stadium der SPMS erreicht?

Gelegentlich fragen Patienten von sich aus, ob sie denn schon chronisch progredient sind – oft sogar solche, die noch gar nicht in diesem Stadium sind. Das Label „chronische Progredienz“ macht ihnen Angst, weil sie sich davor fürchten, schleichend immer schlechter zu werden, ohne dass man die Krankheit noch beeinflussen kann. Deshalb ist die Kommunikation eine Herausforderung. Man muss erklären, dass es immer noch Therapieoptionen gibt, wirksam je nachdem, wie viel entzündliche Aktivität noch vorhanden ist. Da muss man den Patienten gut mitnehmen, auch damit er therapiemotiviert bleibt.

Patienten können widerwillig reagieren, wenn der Arzt ihnen eine nicht (mehr) ausreichend wirksame Therapie wegnehmen will. Machen Sie die Erfahrung bei Ihren MS-Kranken auch?

Ja, das kann durchaus vorkommen. Es gibt Patienten, die ihre Behandlung jahrelang fortführen, obwohl diese gar nicht ausreichend wirkt. Oft ist es schwer, ihnen klarzumachen, dass man eine Therapie beenden bzw. wechseln möchte, weil sie nicht mehr zur Aktivität oder Verlaufsform passt. Das bedarf großer Überzeugungsarbeit und ausführlicher Aufklärung über die pathophysiologischen Zusammenhänge, die es patientengerecht darzustellen gilt.

Medical-Tribune-Interview

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Privatdozent Dr. Antonios Bayas; Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie, 
Universitätsklinikum Augsburg Privatdozent Dr. Antonios Bayas; Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie, Universitätsklinikum Augsburg © privat
Die MS-Erkrankung der Patient:innen sollte immer im Blick behalten werden, um möglichst frühzeitig einschreiten zu können. Die MS-Erkrankung der Patient:innen sollte immer im Blick behalten werden, um möglichst frühzeitig einschreiten zu können. © iStock/mi-viri