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Ausstieg ohne Reue

Herr Dr. Henssler, was wusste man bisher über Absetzsymptome bei Antidepressiva, und welche neuen Erkenntnisse liefert Ihre Studie?
Dass manche Patientinnen und Patienten negative Symptome erleben, wenn sie Antidepressiva absetzen, ist schon lange bekannt. Unklar war aber, wie häufig solche Beschwerden auftreten und wie sie zu erklären sind. In einzelnen Studien aus den vergangenen Jahren wurde die Häufigkeit von Absetzsymptomen mit bis zu 50 % teils sehr hoch angesetzt. Das hat viele Betroffene verunsichert. Es deckte sich aber nicht mit meinem klinischen Eindruck. Unsere Metaanalyse ermöglicht nun eine umfassende Einschätzung der Häufigkeit.
Und wie häufig sind Absetzerscheinungen demnach?
Insgesamt berichtet ein Drittel der Patientinnen und Patienten, 31 %, nach dem Absetzen von Antidepressiva über negative Symptome. Am häufigsten sind unspezifische Beschwerden wie Kopfschmerzen und Grippegefühle, Schwindel, Übelkeit, Stimmungsschwankungen oder Schlafstörungen. Diese Symptome sind in der Regel mild ausgeprägt, schwere Ausmaße traten nur in 3 % der Fälle auf. Allerdings glauben wir, dass die Häufigkeit von einem Drittel ebenfalls eine Überschätzung darstellt.
Warum denken Sie, dass die Häufigkeit überschätzt wird?
Wir konnten zeigen, dass Menschen mit einer Depression, die im Rahmen einer klinischen Studie ein Placebo statt eines Antidepressivums einnehmen, ebenfalls zu 15 % über Entzugserscheinungen beim Absetzen berichten. Das bedeutet: Von dem Drittel der Fälle, in denen nach dem Ende einer antidepressiven Therapie Beschwerden auftreten, ist nur rund die Hälfte auf das Medikament zurückzuführen. Die andere Hälfte erklärt sich vermutlich durch Unspezifität oder den Nocebo-Effekt. Letzterer meint eine negative Erwartungshaltung in Bezug auf Absetzsymptome, die zu einer stärkeren Anspannung und zu größerer Aufmerksamkeit für diese Beschwerden führt. Deshalb werden etwa unspezifische Symptome stärker beachtet, oder man fühlt sich zu diesem Zeitpunkt aus anderen Gründen kränklich, bringt das aber mit dem Absetzen des Medikaments in Verbindung.
Gelten Ihre Erkenntnisse für alle Antidepressiva gleichermaßen?
Leider gab es zu manchen häufig eingesetzten Wirkstoffen wie Mirtazapin und Bupropion keine geeigneten Studien. Von den Mitteln, über die wir Aussagen treffen können, verursachten Venlafaxin, Desvenlafaxin, Imipramin und Escitalopram am häufigsten Absetzsymptome. Bei Beendigung einer Therapie mit Imipramin, Paroxetin oder Venlafaxin scheinen die Symptome am stärksten ausgeprägt zu sein.
Frische Daten zu einem altbekannten Phänomen
In die Metaanalyse flossen 79 Publikationen mit 21.002 Teilnehmenden ein. Erstmals wurde auch analysiert, wie häufig Absetzsymptome bei Menschen mit Depression auftreten, die im Rahmen einer verblindeten Studie ein Placebo statt eines antidepressiven Medikaments einnehmen.
Wie differenziert man Absetzsymptome, die auf den pharmakologischen Entzug zurückgehen, von einem Rezidiv der Grunderkrankung?
Das ist in der Tat schwierig. Was umso heikler ist, da es gegensätzliche Therapiestrategien nach sich zieht: Geht man von einer Rückkehr der Depression oder Angststörung aus, ist eine Wiederaufnahme oder ein Wechsel der Medikation angezeigt. Bei Absetzsymptomen dagegen kann die richtige ärztliche Begleitung und ein möglicherweise langsames Ausschleichen der Medikation gut gelingen. Einige wenige Symptome sind spezifisch für ein Entzugssyndrom, diese treten aber eher selten auf. Dazu zählen Empfindungen von elektrischen Schlägen im Kopf oder den Gliedmaßen, sogenannte „Brain Zaps“ oder „Body Zaps“. Neu auftretende, sehr lebhafte Träume deuten ebenfalls auf Absetzsymptome hin, genau wie starke Übelkeit.
Und bei unspezifischen Symptomen, die häufig auch im Rahmen von Depressionen und Angsterkrankungen auftreten?
Da hilft nur der Blick auf den zeitlichen Verlauf. Entzugssymptome beginnen meist schnell nach dem Absetzen, manchmal schon nach der ersten ausgelassenen Dosis. Die Beschwerden steigern sich über Tage und beginnen oft nach zwei Wochen wieder abzuflauen. Die Rückkehr einer Depression dagegen braucht länger, der Peak liegt bei zwei bis drei Monaten nach dem Absetzen. Das gilt aber nur, wenn zuvor eine Remission erreicht wurde. Wenn noch eine bedeutende Restsymptomatik besteht, kann die Erkrankung auch schneller zurückkehren. Ein weiteres Kriterium: Bei einer Depression oder Angststörung hält der negative Affekt meist Tage bis Wochen durchgängig an. Bei einem Absetzsyndrom beobachtet man eher schnellere Stimmungsschwankungen.
Erschwert eine längere Einnahmedauer das Absetzen?
Tatsächlich war die Einnahmedauer in den Studien, die wir ausgewertet haben, mit durchschnittlich sechs Monaten relativ kurz. Aber auch bei einer Therapiedauer von einem Jahr und länger fanden wir keine nennenswert erhöhte Rate von Absetzsymptomen. In der Praxis kommt es natürlich vor, dass von einer Depression Betroffene über viele Jahre hinweg Antidepressiva einnehmen. Das wird in den Studien bislang nicht gut abgebildet. Leitliniengemäß sollte die Verschreibung aber zumindest bei der ersten Episode ohnehin nur noch sechs bis neun Monate fortgesetzt werden, nachdem sich die Symptomatik gebessert hat. Eine längere Einnahme kann etwa bei rezidivierenden Erkrankungsformen sinnvoll sein, doch auch dann sollte man regelmäßig prüfen, ob die Therapie noch nötig ist.
Welche Strategie empfehlen Sie konkret für die Beendigung einer Therapie mit Antidepressiva?
Zum einen kann man schon bei der Verschreibung darauf achten, einen Wirkstoff mit geringerem Risiko zu wählen. Ich persönlich versuche mittlerweile, Venlafaxin und Paroxetin zu vermeiden, wenn es Alternativen gibt. Zum anderen sollte das Absetzen in eine Phase fallen, in der die Patientinnen und Patienten möglichst stabil sind.
Hilft ein Ausschleichen der Medikation gegen Absetzsymptome?
Das wird zwar häufig berichtet, wir konnten diesen Effekt allerdings nicht nachweisen. Das könnte daran liegen, dass häufig nur ein kurzes Ausschleichen praktiziert wurde, etwa über zwei Wochen. Es braucht wohl eher eine Dosisreduktion über viele Wochen, bei manchen Substanzen auch Monate. Auch gilt vermutlich: Je niedriger man mit der Dosis kommt, desto kleiner sollten die weiteren Reduktionsschritte ausfallen.
In welcher Form sollte man die Patientinnen und Patienten über Absetzsyndrome aufklären?
Schon zu Beginn der Behandlung sollte man darauf hinweisen, dass Absetzphänomene möglich sind. Das wird mittlerweile auch in den Leitlinien so gefordert. Eine negative Erwartungshaltung lässt sich reduzieren, indem man erklärt, welche Symptome typisch sind und dass diese ganz überwiegend leicht ausgeprägt und vorübergehend auftreten. Bagatellisieren sollte man das Thema jedoch nicht. Wer Antidepressiva erhält, muss wissen, dass ein Absetzen auf jeden Fall mit dem Arzt oder der Ärztin besprochen werden muss.
Interview: Medical-Tribune-Interview
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