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Antidepressiva ausschleichen mit Plan

Unkontrolliertes Verlangen, eigenmächtige Dosissteigerung und Einengung von Verhalten und Interessen: Weil bei Antidepressiva keines dieser drei ICD-10-Abhängigkeitskriterien erfüllt wird, sind beim Absetzen der Mittel keine Entzugssymptome im engeren Sinne zu befürchten. Das ist Dr. Marlene Krabs von der Berliner Schlosspark-Klinik und Prof. Dr. Tom Bschor vom Universitätsklinikum Dresden wichtig zu betonen. Dennoch kann es schwierig werden, die Einnahme zu beenden (was ebenfalls ein Suchtkriterium darstellt, aber allein nicht ausreicht). Drei verschiedene Effekte müssen laut den beiden Psychiatern unterschieden werden: die sogenannten Absetzsymptome, die sich bei bis zu 86 % der Patienten beobachten lassen, eine Wiederkehr der psychiatrischen Grunderkrankung sowie Rebound-Phänomene.
Dass Absetzsymptome oft nicht vermeidbar sind, liegt im Wirkmechanismus der Mittel begründet. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) zum Beispiel erhöhen die Konzentration des Botenstoffs im synaptischen Spalt. Darauf stellt sich der Körper mit einer Gegenregulation ein. Das schlagartige Absetzen der Medikamente kann deshalb zu einem funktionellen intrasynaptischen Neurotransmittermangel führen. Noch häufiger als bei SSRI oder bei Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (SNRI) treten solche Phänomene bei trizyklischen Antidepressiva und Monoaminoxidase(MAO)-Hemmern auf.
Von Schlafstörungen bis Stimmungsschwankungen
Oft sind die daraus folgenden Absetzsymptome unspezifisch. Sie reichen von Konzentrationsstörungen und Stimmungsschwankungen über Muskelschmerzen bis zu Schlafstörungen. Auch über grippeähnliche Symptome, Kopfschmerzen, Übelkeit und Sensibilitätsstörungen wird berichtet. Zu beobachten sind diese Symptome zumeist in der ersten Woche nach dem Einnahmeende, mit einem Höhepunkt nach 36 bis 96 Stunden. Die Beschwerden bilden sich in der Regel innerhalb von zwei bis sechs Wochen zurück. Fast immer seien die Symptome mild ausgeprägt und reversibel, so die Autoren.
Eine unmittelbare Rückkehr der Depression ist wegen des phasenhaften Verlaufs der Erkrankung nach einem Einnahmestopp normalerweise nicht zu erwarten. Manche Absetzsymptome wie Erschöpfung, Müdigkeit, Ängstlichkeit oder innere Unruhe können zwar depressiven Symptomen ähneln. Im Vergleich zu einer depressiven Episode setzen diese Beschwerden aber viel früher nach dem Absetzen ein, fluktuieren stärker und sind meist nur von kurzer Dauer.
Mit dem Begriff Rebound-Phänomen beschreibt man den Umstand, dass für Menschen nach einer antidepressiven Pharmakotherapie offenbar generell ein erhöhtes Risiko für Rückfälle besteht im Vergleich zu Patienten, die keine antidepressive Medikation erhalten. Gelegentlich wird auch eine besonders schwere depressive Episode nach dem Absetzen von Antidepressiva beobachtet. Wie groß das Rebound-Risiko ist, lässt sich jedoch nicht beziffern, da entsprechende Studien fehlen.
Aufgrund der möglichen negativen Effekte sollte das Absetzen von Antidepressiva zunächst schrittweise stattfinden. Dies gilt bereits ab einer Einnahmedauer von vier Wochen. Gerade bei SSRI und SNRI sollten die Reduktionsschritte jedoch nicht linear erfolgen.
Das größte Risiko besteht im Niedrigdosisbereich
Beide Medikamententypen blockieren den Serotonintransporter über einen breiten Dosisbereich gleichmäßig bis zu rund 80 %. Erst dann kommt es zu einem steilen Abfall der Blockade. Das größte Risiko für Absetzphänomene besteht deshalb im Niedrigdosisbereich, warnen die Autoren: „Hier sollte besonders langsam und in besonders kleinen Schritten ausgeschlichen werden.“ Die ersten Reduktionsschritte dürfen dagegen auch großzügiger ausfallen. Die Experten raten in diesem Zusammenhang, den Umstieg auf Tropfen zu erwägen.
Befürchtungen, dass eine einmal begonnene Behandlung mit einem Antidepressivum aufgrund der Provokation eines Rezidivs nicht mehr beendet werden könne, sollten Anlass genug sein, beim Beginn der Therapie Vorsicht walten zu lassen. Das gilt gerade bei leichten bis mittelschweren Depressionen, bei denen Antidepressiva Placebo kaum überlegen seien, mahnen Dr. Krabs und Prof. Bschor. Entscheidet man sich für medikamentöse Stimmungsaufheller, müssen die Patienten bereits vor dem Beginn der Behandlung über verbreitete Absetzprobleme und mögliche Rebound-Phänomene aufgeklärt werden.
Quelle: Krabs M, Bschor T. DNP 2023; 24: 54-59
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