Belastungsprobe unaufhörliches Geplärre: Schreibabys vermehrt Opfer von Gewalt

Warum genau Säuglinge schreien, wird seit Langem diskutiert. Einerseits macht das Kind damit auf seine Bedürfnisse aufmerksam. In 5–10 % der Fälle liegen organische Beschwerden vor, wie z.B. Infektionen der Atem- oder Harnwege. Andererseits kann es ein Hinweis auf entwicklungsbezogene Unreife darstellen. Durchschnittlich weint jedes Kleinkind während der ersten drei Lebensmonate täglich etwa 140 Minuten.
Jedes zweite Baby hat eine Verdauungsstörung
Exzessives Schreien liegt laut der umstrittenen Dreierregel vor, wenn ein Säugling an mindestens drei Tagen pro Woche minimal drei Stunden über gut drei Wochen lautstark quengelt. Für die klinische Diagnose haben sich die Rom-III-Kriterien für gastrointestinale Störungen bewährt. Diese berücksichtigen, dass das Schreien ohne erkennbaren Grund auftritt und die Eltern es nicht verhindern können. In den meisten Fällen endet das übermäßige Weinen spontan, zeigt keinerlei Auswirkungen auf die Entwicklung und wird daher als „belastendes Symptom“ bezeichnet. In westlichen Industrieländern hat exzessives Gebrüll eine Prävalenz von 5–19 %. Weder Geschlecht noch Ernährungsmethode (Flasche, Brust) oder soziale und ethnische Herkunft und damit verbundene Verhaltensmuster können es beeinflussen.
Bei etwa 6 % der Babys persistiert die Symptomatik bis über den dritten Lebensmonat hinaus. Die Ursachen sind vermutlich vielseitig. Etwa 55 % aller Babys haben funktionelle Störungen des Verdauungstrakts. Hintergrund könnte eine Reifungsproblematik neuronaler Regelkreise sein, die das gastrointestinale Nervensystem betrifft. So schreien behinderte und frühgeborene Kinder vermehrt. Psychische Störungen wie pränatale Depressionen und Angststörungen der Mutter fördern die Symptome offenbar.
Die Diagnose erfolgt im Ausschlussverfahren. Dazu gehört es, das Schreiverhalten anamnetisch zu erfassen und zu eruieren, wie die Eltern psychisch aufgestellt sind. Hierfür eignet sich u.a. die „Edinburgh Postnatal Depression Scale“. Hält das exzessive Gebrüll über den dritten Monat hinaus an, empfiehlt sich z.B. ein Schreiprotokoll. Auch ein Kinderpsychiater oder -psychotherapeut kann hinzugezogen werden. Zusätzlich ist auf postpartale Depressionen und die erhöhte Gefahr von kindlicher Vernachlässigung oder Misshandlung – ausgelöst durch den Lärmstress – zu achten.
An erster Stelle steht, Eltern durch diese aufreibende Zeit zu begleiten sowie Vater und Mutter auf aggressive oder feindselige Impulse ihrem Schreikind gegenüber anzusprechen. Um das Thema zu enttabuisieren und Schuldgefühle zu nehmen, eignen sich Beispiele von Eltern in ähnlicher Lage. Zudem entspannen regelmäßige Auszeiten vom Schreihals die Situation.
Die Behandlungsoptionen für den Nachwuchs sind begrenzt, Medikamente nicht indiziert. Die Wirkung von Nahrungsumstellungen und -ergänzungen mit bspw. Tee oder Kräutern ist nicht bewiesen. In Studien zeigte sich, dass der Placeboeffekt bei etwa der Hälfte der Kinder in der Kontrollgruppe die Symptome verringerte. Anscheinend kann die Erwartungshaltung der Eltern Einfluss auf das Schreien nehmen.
Babymassage lässt Ruhe einkehren
Probiotische Bakterien und Spezialnahrung haben keine Wirkung. Ausnahme besteht bei einer diagnostizierten Kuhmilchallergie, hier ist eine Hydrolysatnahrung angebracht. Eine Babymassage reduziert das Schreien, manuelle Therapie eignet sich hingegen nicht. Übertroffen wird die Massage vom Einwickeln des Schreikindes (Pucken) in Ruhephasen (dreimal täglich 30 Minuten für drei Wochen). Die Technik kann jedoch nur unter Einschränkungen empfohlen werden: Eltern müssen das Pucken beherrschen, um das mit dem Kindesalter zunehmende Risiko für den plötzlichen Kindstod zu verringern.
Einwickeln kann der Hüfte schaden
Ein Nachteil des Einwickelns stellt eine potenzielle Schädigung der Hüfte dar. Sobald sich das Kind alleine auf den Bauch drehen kann, ist das Pucken zu unterlassen. Bewegung, in Form von ausdauerndem Herumtragen und Schaukeln des Babys, setzen viele Eltern intuitiv ein, jedoch schafft dies nur kurzzeitig Abhilfe. Besser ist es, eine für das Kind vorhersehbare Tagesroutine zu etablieren und auf Müdigkeitssignale zu achten. Emotional gefestigte Eltern können versuchen, ihr Kind schreiend abzulegen und abzuwarten, dass es nach 15 bis 30 Minuten von selbst einschläft.
Persistierende kindliche Unruhe ist oft mit schlechtem elterlichem Interaktionsverhalten, z.B. vorauseilender Aktivität oder schneller Ablenkung, assoziiert. In diesem Fall können Beratungsstellen helfen. Bestehen zusätzlich elterliche Probleme wie psychosoziale Belas-tungen oder psychische Störungen, müssen psychiatrisch-psychotherapeutische Maßnahmen ergriffen werden, um das Risiko für kindliche Entwicklungsstörungen zu reduzieren.
Tipps für die Eltern
- Tagesroutine schaffen
- Pucken nach Anleitung in Ruhe
- Hilfe von Partner oder Hebammen
- fixe Auszeiten für Bezugsperson
Bindt C, Schulte-Markwort M. Monatsschr Kinderheilkd 2017; 165: 73-85
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