Einfach nur schüchtern? Zwei Fragen entlarven die soziale Phobie

Dr. Angelika Bischoff

Viele greifen zur Flasche, niemand geht zu den Anonymen Alkoholikern. Viele greifen zur Flasche, niemand geht zu den Anonymen Alkoholikern. © fotolia/ Daisy Daisy

Herzrasen, Schweißausbrüche, Zittern und unerträgliche Angst – und das nur, weil der 26-Jährige einen Anruf entgegennehmen musste. Seit der Pubertät mied er jeglichen Kontakt, auch den zum Arzt. Bis eine andere Erkrankung eine Konsultation erforderte.

Jeder Patient mit sozialer Phobie kennt angstauslösende Schlüsselsituationen: sich mit Fremden unterhalten zu müssen, höhergestellte Persönlichkeiten zu treffen, auf Partys zu gehen. Solche und andere Situationen sind für ihn der reinste Horror. Denn die Phobie ist mehr als die Schüchternheit, mit der sie oft verwechselt wird, schreiben Professor Dr. rer. nat. Falk­ Leichsenring­ und Professor Dr. Frank­ Leweke von der Abteilung Psychosomatik und Psychotherapie der Justus-Liebig-Universität Gießen­.

Erst medikamentös, dann mit Psychotherapie behandeln

Zusätzlich zur Angst treten körperliche Symptome wie Herzklopfen, Schwitzen oder Zittern auf. Betroffene versuchen deshalb, diesen Szenarien aus dem Weg zu gehen. In der Folge funktionieren soziale und romantische Beziehungen schlecht, mehr als 90 % erfahren soziale Nachteile. Sie verlassen häufiger die Schule, sind weniger produktiv am Arbeitsplatz und erreichen einen verminderten sozioökonomischen Status. Ein Drittel weist sehr schwere Beeinträchtigungen auf. Die Personen vermeiden, über ihre Ängste zu sprechen und wegen psychologischer Symptome einen Arzt zu konsultieren. Dies erklärt möglicherweise, warum nur 35 % der Menschen mit einer lebenslangen sozialen Phobie behandelt werden. Oft fallen sie durch ihr Verhalten erst auf, wenn sie wegen einer anderen Erkrankung in die Praxis kommen. Bei Verdacht helfen diese Fragen:

  • „Neigen Sie dazu, soziale Situa­tionen oder Aktivitäten zu vermeiden?“
  • „Empfinden Sie Angst oder Verlegenheit in sozialen Situationen?“ Die Erkrankung geht außerdem mit einem erhöhten Risiko für Depressionen, Substanzmissbrauch und kardiovaskuläre Erkrankungen einher. Deshalb ist es wichtig, zusätzlich diese Aspekte vorsichtig abzuklopfen. Alkohol wird häufig als eine Art Selbstmedikation benutzt, um die Angst zu vermindern. Gleichzeitig hindert die soziale Phobie Betroffene daran, Hilfe in Gruppentreffen wie denen der Anonymen Alkoholiker zu suchen.

Für die Behandlung kommen Psycho- und/oder Pharmakotherapie in Betracht. Die Autoren favorisieren die psychologische Option, falls eine kognitive Verhaltenstherapie möglich und der Patient damit einverstanden ist. Denn einige haben davor zu viel Angst. In solchen Fällen bietet sich eine initiale medikamentöse Behandlung an, um das Angstniveau zu senken und einen Zustand zu erreichen, in dem der Betroffene eine Psychotherapie toleriert. Im Kurzzeitverlauf haben zwar beide Maßnahmen ähnliche Erfolge vorzuweisen. Während der gewünsche Effekt unter Medikation schneller eintritt, hält jedoch derjenige der Verhaltenstherapie länger an.

Panik vor Publikum

Ein Subtyp der sozialen Phobie betrifft ausschließlich Situationen, in denen man sich selbst öffentlich präsentiert, sei es mit einer Rede an eine größere Gruppe, mit einem Referat oder mit einer musikalischen Darbietung vor Publikum. Diese Form tritt meist später im Leben auf, beeinträchtigt weniger, wird seltener vererbt und spricht besser auf die Therapie an. Für diese Patienten eignet sich laut den Autoren die Gabe von Betablockern eine Stunde vor dem Auftritt. Sie lindern autonome Symptome wie Tremor, Schwitzen und Tachykardie. Benzodiazepine bieten ebenfalls eine Option, haben aber den Nachteil, dass sie sedieren.

Letztere gilt heute als psychotherapeutisches Verfahren der Wahl. Die kognitive Verhaltenstherapie sollte laut den Experten in 14–16 Sitzungen über etwa vier Monate laufen. Die Responseraten lagen in Studien bei 50–65 %, unter Placebo waren sie nur halb so hoch. Bis zu ein Drittel erreichte eine Remission.

Antidepressiva mindestens drei bis sechs Monate geben

Weiterhin kann man eine Web-basierte kognitive Verhaltens-, eine interpersonelle Psycho-, eine psychodynamische Kurzzeittherapie oder eine achtsamkeitsbasierte Stressreduktion in Erwägung ziehen.

In der Pharmakobehandlung kommen selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Paroxetin als erste Wahl zum Einsatz. Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) wie Venlafaxin sollen aber genauso wirkungsvoll sein. Laut einer Metaanalyse von randomisierten Studien sprechen 55 % der Patienten auf SSRI an vs. 32 % auf Placebo. Die Dosierung in Studien entspricht der bei Major-Depression. Setzt nach vier Wochen kein Effekt ein, muss man die Dosis erhöhen. Die optimale Therapiedauer bleibt unklar, laut den Gießener Kollegen sollte sie mindestens drei bis sechs Monate über das Ansprechen hinaus erfolgen und dann allmählich ausgeschlichen werden.

Antikonvulsiva wie Pregabalin haben in klinischen Studien geringere Responseraten gezeigt, gelten aber laut kanadischen Leitlinien als Mittel der Wahl. Schwere Fälle können initial zusätzlich Benzodi­azepine erhalten, um schneller einen Effekt zu erreichen. Dies verbietet sich allerdings bei Depression oder Substanzmissbrauch. 

Quelle: Leichsenring F, Leweke F. N Engl J Med 2017; 376: 2255-2264

Falls Sie diesen Medizin Cartoon gerne für Ihr nicht-kommerzielles Projekt oder Ihre Arzt-Homepage nutzen möchten, ist dies möglich: Bitte nennen Sie hierzu jeweils als Copyright den Namen des jeweiligen Cartoonisten, sowie die „MedTriX GmbH“ als Quelle und verlinken Sie zu unserer Seite https://www.medical-tribune.de oder direkt zum Cartoon auf dieser Seite. Bei weiteren Fragen, melden Sie sich gerne bei uns (Kontakt).


Viele greifen zur Flasche, niemand geht zu den Anonymen Alkoholikern. Viele greifen zur Flasche, niemand geht zu den Anonymen Alkoholikern. © fotolia/ Daisy Daisy