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Im Zweifel dement - Seitdem die Diagnose finanziell attraktiver ist, schießen die Patientenzahlen nach oben

Wenn es um die kognitiven Defizite ihrer Patienten ging, galten Hausärzte bisher nicht als die aufmerksamsten Beobachter. Sowohl national als auch international gebe es Hinweise darauf, dass in den Praxen viele Demenzkranke übersehen werden, berichtet Dr. Jens Bohlken, niedergelassener Neurologe und Psychiater in Berlin. Alle Versuche, dies zu ändern, beispielsweise durch entsprechende Fortbildungsprogramme, seien bislang gescheitert.
Umso erstaunlicher erscheint deshalb, was Dr. Bohlken mit Kollegen bei der Analyse der Abrechnungsdaten von 874 zufällig ausgewählten Hausarztpraxen festgestellt hat. In Deutschland ist die Diagnoserate plötzlich massiv hochgeschnellt, allein zwischen 2012 und 2014 um 73 %. Ganz im Gegensatz zu anderen Ländern.
Kombi aus Anreizen für Patienten und Hausärzte
Dieser „drastische Anstieg“ ist nicht durch eine reale Zunahme der Neuerkrankungen zu erklären, meinen Kollegen. Hier hätten eher ökonomische Faktoren ihre Hände im Spiel. Im Jahr 2013 wurde bei der Demenzdiagnostik eine neue Gebührenposition eingeführt. Seitdem wird das Monitoring kognitiver Einschränkungen ebenso wie die Beurteilung von Hirnleistungsstörungen bei diagnostizierter Demenz oft extrabudgetär vergütet.
Finanziell profitabler ist die Demenzdiagnose seitdem auch für die Angehörigen geworden: Durch die Einführung der Pflegestufe Null greift ihnen der Staat kräftiger unter die Arme. Möglicherweise hat es also eine Interaktion zwischen finanziellen Anreizen für die Patienten und für die Hausärzte gegeben, so die Autoren. Sie verweisen auf weitere Indizien, die ihre Interpretation stützen.
Im gleichen Zeitraum sei im Bereich der ebenfalls untersuchten fachärztlichen Versorgung keine Veränderung der Neudiagnosen und auch der Verordnungen von Antidementiva festzustellen. Die untersuchten Hausärzte hatten sogar weniger Antidementiva verschrieben, was ebenfalls nicht zu einer Zunahme der Patientenzahl passt.
Es sei sogar nicht auszuschließen, formulieren die Wissenschaftler vorsichtig, dass ein Teil der Diagnosen nur kodiert und nicht nach einem komplexen Diagnoseprozess gestellt wurde. Ein weiterer Effekt könnte diesen „Qualitätsverlust in der Versorgung“ verstärken: Eine finanziell attraktive Untersuchung führe allein schon deshalb zu mehr Diagnosen, weil sie automatisch mehr falsch positive Ergebnisse produziert, heißt es.
Zahl der Alzheimerkranken ist konstant geblieben
Insbesondere die unspezifischen Demenzdiagnosen haben in den Hausarztpraxen überdurchschnittlich zugenommen. Die Zahl der Alzheimerpatienten ist dagegen im selben Zeitraum relativ konstant geblieben. Ökonomische Anreize scheinen also patienten- und arztseitig einen erheblichen Einfluss auf das Diagnoseverhalten zu haben.
Quelle: Aus der Fachliteratur
Quelle: Bohlken J et al. Fortschr Neurol Psychiatr 2017; 85: 467-473
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