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Klinisch relevante Neuerungen von Apps bis Z-Substanzen

Die Neufassung der Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) Unipolare Depression1 bringt u.a. übersichtlichere Empfehlungen dazu, welche Therapieschritte in Abhängigkeit vom Schweregrad der Erkrankung ratsam sind. Bei einer erstmals aufgetretenen leichten depressiven Episode sollte man etwa zunächst niedrigschwellige Maßnahmen in Betracht ziehen, zum Beispiel angeleitete Selbsthilfe oder gesprächsbasierte Angebote, die auf psychotherapeutischen Techniken basieren. Auch internet- und mobilbasierte Interventionen (IMI), darunter Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA), fallen hierunter. Die Autoren der Leitlinie weisen allerdings darauf hin, dass solche digitalen Therapieangebote in jedem Fall professionell begleitet werden müssen. Sonst bestehe unter anderem die Gefahr, dass Patienten mit möglichen Schwankungen des Behandlungserfolgs allein gelassen werden.
Wahl der Therapieschule soll nur durch Fachleute erfolgen
Bei mittelschweren Depressionen oder bei rezidivierenden leichten Episoden kommen eine Psychotherapie oder eine medikamentöse Behandlung infrage. Eine Empfehlung zur Art der Psychotherapie gibt es dabei nicht – die Autoren stellen aber heraus, dass die Auswahl durch ausgebildete Psychotherapeuten und im direkten Kontakt mit den Patienten erfolgen soll. Hintergrund ist die zunehmend häufiger zu beobachtende Praxis, dass fachfremde Personen wie Case Manager oder Vertreter der Krankenkassen über das Verfahren entscheiden. Aus einer Fehlauswahl könne jedoch nicht nur ein mangelnder Therapieerfolg resultieren, sondern ggf. auch eine Verschlimmerung der Erkrankung.
Auch bei mittelschweren Episoden sind Apps & Co. Teil der Empfehlungen. Hierbei können sie entweder begleitend zu anderen Behandlungen eingesetzt werden bzw. in Ausnahmefällen – falls die Patienten sowohl eine Psychotherapie als auch Antidepressiva ablehnen – als Alternative dazu. Bei schweren Depressionen schließlich sollen alle Ansätze kombiniert werden.
Ein wichtiger Bestandteil jeder Depressionsbehandlung ist die Beratung und Schulung der Patienten. Die Leitlinienautoren geben eine starke Empfehlung dafür, dass Behandler und Betroffene gemeinsam individuelle Therapieziele festlegen und priorisieren. Regelmäßig und nach Bedarf müssen diese zusammen evaluiert und gegebenenfalls angepasst werden. Von Beginn an sollen zukünftig funktionale Beeinträchtigungen, psychosoziale Folgen der Erkrankung und Teilhabeeinschränkungen berücksichtigt werden, erklärte Prof. Dr. Dr. Martin Härter vom Institut für Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Das Ziel ist, Rehabilitations- und Teilhabemaßnahmen frühzeitigt zu besprechen und umzusetzen.
Unabhängig von der Art der Therapie – also auch bei niedrigintensiven Interventionen oder bei einer ergänzenden psychosozialen Behandlung – muss leitliniengerecht ein Monitoring erfolgen. Darin sollten regelmäßig die Krankheitssymptome inklusive Suizidalität, mögliche Nebenwirkungen, der psychosoziale Status und Teilhabebedarf sowie die Adhärenz zur Therapie erfasst werden. Von Beginn an sind dabei validierte Instrumente zu bevorzugen. Um den Verlauf beurteilen zu können, sollte der Ausgangsbefund vor Behandlungsbeginn sorgsam und nachvollziehbar dokumentiert werden.
Die Empfehlungen zu verschiedenen Therapeutika wurden ebenfalls überarbeitet, berichtete Prof. Dr. Thomas Frodl, Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Aachen. So hat man z.B. die Evidenzbasis für Johanniskraut ergänzt. Als Arzneimittel zugelassene Johanniskrautpräparate können laut Leitlinie bei leichten bis mittelgradigen depressiven Episoden im Rahmen eines ersten Therapieversuchs eingesetzt werden, nachdem über die spezifischen Nebenwirkungen aufgeklärt wurde.
Eine klare Absage erteilen die Leitlinienautoren dagegen der Verordnung von Benzodiazepinen und Z-Substanzen bei leichten depressiven Episoden. Bei mittelschwerer oder schwerer Depression sollen sie nur im Einzelfall die Behandlung mit Antidepressiva oder Psychotherapie ergänzen.
Mehr Klarheit bei den GABA-A-Agonisten
Die Neufassung der Leitlinie gibt differenziertere Empfehlungen zum Einsatz von Benzodiazepinen und Z-Substanzen bei Depression. Patienten mit leichten depressiven Episoden sollen diese Wirkstoffe grundsätzlich nicht erhalten. Bei mittelschweren depressiven Episoden sollten sie nur „im begründeten Einzelfall“ eingesetzt werden, bei der Akutbehandlung schwerer depressiver Episoden „in begründeten Fällen“, jeweils zusätzlich zu einer Behandlung mit Antidepressiva oder Psychotherapie. Als Bedingung für einen Therapieversuch nennt die Leitlinie:
- stark belastende Schlafstörungen oder große Unruhe
- keine Suchterkrankungen in der Vorgeschichte
- Beachtung der Risiken
- Begrenzung der Dauer auf zwei, maximal vier Wochen
Erstmals in die NVL aufgenommen wurden Esketamin und Ketamin. Das Esketamin-Nasenspray ist mit seinem schnellen Wirkeintritt eine Behandlungsoption bei Therapieresistenz und Suizidalität. Wegen der Gefahr starker Nebenwirkungen und Toleranzentwicklung soll es nur stationär eingesetzt werden. Ketamin i.v. ist für die Therapie der Depression nicht zugelassen. Im stationären Setting sehen die Leitlinienautoren eine Indikation für den Off-Label-Einsatz, wenn schwerste therapieresistente Störungen in Verbindung mit akuter Suizidalität vorliegen.
Verändert oder neu sind auch Empfehlungen zur Erhaltungstherapie. Nach Remission der depressiven Episode soll die Antidepressivatherapie in gleicher Dosis über weitere sechs bis zwölf Monate fortgesetzt und dann über acht bis zwölf Wochen ausgeschlichen werden. Ist eine Rezidivprophylaxe indiziert, soll diese über zwei Jahre erfolgen, auch hier wieder in der Dosis, die in der Akuttherapie wirksam war. Die medikamentöse Erhaltungstherapie oder Rezidivprophylaxe kann mit einer Psychotherapie kombiniert werden.
Das Ansprechen auf die Therapie regelmäßig prüfen
Das Ansprechen auf eine Therapie sollte bei Medikamenten drei bis vier Wochen nach Erreichen der Zieldosis beurteilt werden, im Fall einer Psychotherapie nach acht bis zwölf Wochen. Bei der Suche nach den Ursachen für ein Nichtansprechen helfen die klinischen Algorithmen in der Leitlinie weiter. Diese gibt es erstmals für alle Behandlungsschritte, vom Vorgehen bei Beratung und Diagnose bis hin zu Interventionen bei therapierefraktärer Depression.
Zu den Gründen für einen mangelnden Erfolg der Therapie gehören etwa eine initiale Fehldiagnose oder eine depressiogene Komedikation aufgrund einer anderen Erkrankung, erläuterte Prof. Dr. Andreas Reif, Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik in Frankfurt am Main. Auch die Möglichkeiten einer schlechten Adhärenz oder eines nicht ausreichenden Serumspiegels müssten geprüft werden.
Kongressbericht: DGPPN* Kongress 2022
* Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde
Quelle: 1. https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/nvl-005
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